Fachinformation. Fokus: Interkulturalität
In der Ganztagsschule bildet sich die soziale, kulturelle, religiöse und ethnische Vielfalt unserer Gesellschaft ab. Die Verpflegung ist ein wichtiger Bereich im Schulalltag und ein Thema, bei dem diverse Wertevorstellungen beziehungsweise Bedarfe von Schülerinnen und Schülern zum Tragen kommen. Das kultursensible „Management“ von Erwartungen an die Schulkantine und ein professioneller Umgang mit der Vielfalt religiös beziehungsweise kulturell geprägter Grundannahmen im Hinblick auf Ernährung sind dabei ebenso von Bedeutung wie das Wissen über Kultur und Religion sowie die Sensibilisierung für eine interkulturelle Kompetenz.
Interkulturalität in der Ernährung
Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme – sie ist lebenswichtig. Ob zu viel oder zu wenig, einseitig oder vielseitig – Essen beeinflusst die körperliche und geistigen Entwicklung, weshalb sie ein besonders wichtiges Thema für Kinder und Jugendliche und damit in der Ganztagsschule ist. Menschen essen in aller Welt, doch das „was“ und “wie“ sie essen unterscheidet sich. Essen ist weit mehr als eine reine Nährstoffaufnahme, um biologische Prozesse im Körper zu erhalten – sie ist auch immer Ausdruck eines Lebens- und Weltverständnisses. Ernährungsmodelle gewinnen unter anderem deshalb in unserer Gesellschaft immer mehr auch die Bedeutung von einem „Glaubensersatz“ und sind Teil moralischer Überzeugungen beziehungsweise Wertekonstruktionen. Weltweit finden sich seit jeher spezifische Formen der Ernährung und Vorstellungen hierzu. Neben der instinktiven und für das Überleben wichtige Handlung kommt ihr auch als Bestandteil der Kultur eine zentrale Rolle zu. Sie ist gesellschaftlich normiert (dazu zählen beispielsweise Tischmanieren, Knigge, Tischkultur, Mahlzeiten), in Traditionen, Handlungen, Ritualen und Deutungen der Menschen und Gesellschaften verankert und von Land zu Land unterschiedlich. Das Essverhalten wird primär durch Emotionen, Werte und Erfahrungen beeinflusst und ist wichtiger Teil in allen Kulturen und entsprechend in Traditionen, Handlungen, Riten und Deutungen der Menschen und Gesellschaften verankert. Damit bildet sie auch einen wichtigen Faktor in einer Gemeinschaft und Beziehungen. Essen verbindet die Menschen!
An Essen drückt sich auch Wohlstand oder Armut aus. In Hinblick auf die soziale Gerechtigkeit ist sie deshalb ein wichtiges Thema unserer Gesellschaft. Eine gleichberechtigte Teilhabe für alle an gesunder Ernährung zu sichern ist unter anderem ein zentrales Anliegen der Ganztagsschule.
Die Bedeutung der Ernährung ist Bestandteil aller Religionen und deren Weltanschauung sowie Wertesystemen. Lebensmitteln kann eine religiöse Bedeutung zugeschrieben werden (Messwein, Oblate), das Nicht-essen (Fasten) zu einer spirituellen Übung werden, eine bestimmte Handlung etwas essbar machen (Schächten). Religiöse Feiertage sind mit besonderen Speisen verbunden (Martinsgans, Mazze, Aschura). Essen ist kein banales Thema, bei dem es nur um sattwerden geht!
Eine gesunde Ernährung spielt für das Gelingen des Ganztags eine wichtige Rolle, da ein Großteil des Tages der Schülerinnen und Schüler in der Schule stattfindet. Dabei ist die Schülerschaft ein Spiegel der Gesellschaft, indem sich die Vielfalt an Lebensgestaltungskonzepten, (Migrations)biographien und die Heterogenität von ethnischer und religiöser Zugehörigkeit zeigt. Der gesellschaftliche Wandel und die Veränderungen hin zu einer diversen Migrationsgesellschaft machen eine Umgestaltung in verschiedenen Bereichen notwendig. Versorgungsstrukturen wie die Schulküche sind vor der Herausforderung gestellt, ein ansprechendes Angebot zu formulieren. Dieses soll sich nicht nur an den Empfehlungen der DGE-Qualitätsstandards für die Verpflegung in Schulen orientieren, sondern auch nachhaltig und akzeptiert sein. Ein kultursensibler Umgang mit der Vielfalt an kulturellen Prägungen der Schülerinnen und Schüler sowie ihren Eltern ermöglicht ein gutes Miteinander in der Ganztagsverpflegung und bedeutet einen bunten Speisezettel. Anregungen für ein nachhaltiges und interkulturelles Verpflegungsangebot, zum Beispiel durch den Einsatz von Hülsenfrüchten, erhalten Sie auf den nachfolgenden Seiten.
Warum interkulturelle Kompetenz in der Schulküche?
Wo Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen zusammenkommen ist die Antwort auf das „Was ist normal?“ nicht einfach. Warum sind einige Lebensmittel tabu? Was wird gegessen und was nicht? Gibt es Verhaltensregeln beim Essen? Was für jemanden als selbstverständlich gilt, kann bei anderen Personen Unverständnis auslösen. In diesen kulturellen Überschneidungssituationen müssen Aushandlungsprozesse stattfinden und zur beidseitigen Zufriedenheit Lösungen gefunden werden.
Kultur ist aber mehr als „typisch deutsch“ und „typisch türkisch“ deklarierte Dinge, die eher Vorurteile und Stereotypisierung sind. In der Gesellschaft gibt es verschiede ethnische, religiöse und kulturell diverse Bevölkerungsanteile. Die Lebenswelten und Wertevorstellungen beispielsweise muslimisch geprägter Familien sind ebenso heterogen beziehungsweise homogen wie bei anderen Migrantengruppen. Zudem gibt es auch nicht religiöse Muslime, Juden und Christen. Die Essenvorschriften können deshalb unterschiedlich ausgelebt werden. Und letztlich hat jeder Mensch eine spezifische Prägung und ein Wertesystem primär aus dem familiären Umfeld mitbekommen. Das eigene Weltbild wird hierbei als Normalität angesehen und andere davon abweichende Verhaltensweisen und Annahmen erst mal als „fremd“ wahrgenommen. Zeitlebens lernen wir mit und durch die Begegnung von Neuem begleitet entwickeln wir unsere Persönlichkeit weiter. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, das Thema der interkulturellen Öffnung beziehungsweise interkulturellen Kompetenz im Ganztag zu fokussieren. Die Schulverpflegung ist ein wichtiger Baustein in dem Schulalltag und gerade hier bieten sich viele Möglichkeiten, gleichzeitig jedoch auch Konfliktpotenziale.
Interkulturelle Konflikte
Aufgrund divergierender Vorstellungen zum Thema Essen/Lebensmittel und kulturellen Prägungen aus der Familie kann es zu Konfliktsituationen im Schulalltag kommen. Unterschiedliche Erwartungen, Standards, etablierte Abläufe der „Schulkultur“ kollidieren mit den Vorstellungen der Familien. Unsicherheit auf beiden Seiten und fehlende Kommunikation führen zu weiteren Missverständnissen. Die Ablehnung von bestimmten Lebensmitteln oder ihre Zubereitungsform, Nahrungsverweigerung und Konflikte mit besorgten Eltern können hieraus entstehen. Hier gilt es professionell zu handeln und zu kommunizieren: interkulturelle Kompetenz ist eine Methode, die einen guten Umgang in diesen Situationen ermöglicht und die erlernt werden kann!
Interkulturelle Kompetenz ist eine Haltung
Interkulturelle Kompetenz ist ein wirksames Instrument in dem von Diversität und Pluralität geprägten Raum der Ganztagsschule. Eine interkulturelle beziehungsweise interreligiöse Sensibilisierung der professionellen Berufsgruppen vor Ort ist notwendig, um unter anderem auch den individuellen, kulturellen beziehungsweise religiösen Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler adäquat begegnen zu können, aber auch um das Essensangebot vielfältiger zu gestalten. Wahrnehmung, Wertschätzung und Akzeptanz sind Teil dieser interkulturellen Haltung mit dem Ziel, eine vertrauensvolle Beziehung zwischen „Schule“ und Schülerschaft, aber auch zum Elternhaus zu fördern. Die Interaktion der professionellen Ansprechpartner in der Schule (Mensaorganisation, Köche, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern sowie der Lehrerschaft) wird kultursensibel, empathisch und wirkungsvoll, wenn eine persönliche Haltung erarbeitet wird. Denn interkulturelle Kompetenz stellt eine Summe aus individuellen und professionellen Kompetenzen dar, die zum einen die Überwindung der eigenen Fremdheitsgefühle und eine Bewusstwerdung der eigenen kulturellen Prägungen erfordern. Zum anderen umfasst sie die Fähigkeit, einen Raum der Offenheit, Achtung, Anerkennung, Wertschätzung und Neugierde zu schaffen, die zu einer guten Kommunikation und Vertrauensbeziehung führt.
Interkulturelle Kompetenz am Beispiel Islam
Auf das Beispiel von Muslimen angewendet bietet die interkulturelle Kompetenz, im Folgenden sehr vereinfacht, folgendes Vorgehen:
Bewusstwerden: Jeder Mensch wird primär in seiner Kindheit durch sein Umfeld geprägt. Darum ist es wichtig sich bewusst zu machen, dass jeder eine eigene Kultur und damit differente Vorstellungen hat. Normen, Werte, Denkmuster basieren vielfach auf religösen Grundannahmen und sind in die Lebenswirklichkeit der Menschen aufgenommen. So werden sie als 'normal' oder 'selbstverständlich' gelebt. Ganz unbewusst bestimmen sie Wertungen und Handlungsweisen. Beispielweise ist in Einrichtungen Regel, dass freitags Fisch angeboten wird, was aus der christliche Tradition stammt. Genauso gibt es Regeln an die sich Muslime halten wollen, weil diese Teil ihrer Lebensweise ist. Eine Reflexion der eigenen Kultur und Herkunft von Handlungsweisen ist demnach wichtig, um respektvoll mit kultureller Diversität umgehen zu können!
Wissen: Islamische Essensgebote können aus der Religion resultieren und werden als verbindlich für alle Muslime angesehen.
Religiös und für alle Muslime bindend sind die Verbote und Gebote aus dem Koran (heilige Buch der Muslime). Verbote sind beispielsweise Schweinefleisch, Alkohol, Blut. Ein Gebot ist es, „Reines“ (arab. halal) und „Gutes“ (arab. tayyib) zu essen – zum Beispiel das Schächten von Säugetieren (Rind, Schaf, Ziegen etc.) in einer bestimmten Art, nichts zu konsumieren was schädlich für den Körper ist. Dies bezieht sich aber auch auf die Art und Weise der Erwirtschaftung und Umgang mit den Ressourcen (ethischer Kontext). So gilt nichts zu verschwenden, sparsam zu sein und mit Bedürftigen zu teilen. Grundsatz ist, dass alles was religiös nicht verboten (arab. haram) ist, zunächst als erlaubt gilt. Auch spielen kulturelle Faktoren oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Richtung eine Rolle, sodass die Ablehnung von bestimmten Lebensmitteln zum Beispiel von Muscheln, Krustentiere sich nicht auf ein Verbot zurückführen lassen, aber von einem Teil der Muslime dennoch abgelehnt wird. Die Art und Weise wie Geflügel oder Tiere geschlachtet werden kann ebenfalls als problematisch beziehungsweise “haram“ betitelt werden – entsprechend finden diese Lebensmittel dann gegebenenfalls auch in der Schulverpflegung keine Akzeptanz.
Man beachte: Für viele Menschen bedeutet bestimmten Kategorisierungen und Bewertungen zu folgen, authentisch als Gläubige zu handeln. Den Ver- und Geboten zu folgen heißt gottesdienstlich zu handeln.
Tipps für die Umsetzung in der Praxis
- Bedürfnisse feststellen: Diversität und Pluralität der Schülerschaft in der Ganztagsschule wahrnehmen.
- Kommunikation mit Eltern und deren Erwartungen an das Essen vor Ort: Transparenz und wertschätzende Kommunikation
- Offenheit für neue Konzepte in der eigenen Einrichtung fördern: Ein Lebensmittelbezug über Geschäfte, die auf „halal“ in der Fleischproduktion achten wäre denkbar.
- Spezifische Bedarfe klären: Wie können die bearbeitet und berücksichtigt werden? Wer kann helfen? Kontakt zu Gemeinden, Eltern und weiteren Ansprechpersonen schaffen. Familien können zum Teil auch Ansprechpersonen werden bei Fragen und Unterstützen bei der Umsetzung von interkulturellen Konzepten Interkulturellen Essensplan gestalten: Klare Kennzeichnung, zum Beispiel ein Kärtchen mit dem Symbol der Tierart oder die Tierart in Form eines Piktogramms im Speisenplan wären hilfreich.
- Vegetarische Ernährung als Konsens wäre möglich, da hierdurch die Grundsätze der Weltreligionen vereinbar sind – anstelle von Fleisch können Hülsenfrüchte eingesetzt werden, die nicht nur in der interkulturellen Küche Platz finden, sondern auch eine wertvolle Proteinquelle darstellen.
Am Thema Essen kann eine Kultur des Verständnisses zwischen den Menschen sowie eine kultursensible Ernährungsbildung gefördert werden. Vorurteile abzubauen und die Akzeptanz für kulturelle Unterschiede zu fördern kann in der Ganztagsverpflegung gelingen. Die Offenheit für neue Ideen aus anderen Küchen und die Bereitschaft kreativer Zusammenarbeit macht dies möglich.
Im Auftrag der Vernetzungsstelle Schulverpflegung Hessen und der Serviceagentur “Ganztägig Lernen” Hessen:
Gülbahar Erdem
M.A. phil. Theologin, Islamwissenschaftlerin, Referentin für interkulturelle Kompetenz und interreligiösen Dialog
Für weitere Informationen:
- Essen als Ideologie oder Ersatzreligion
- Essen verändert die Welt
- Begleitinformation zum hessischen Tag der Schulverpflegung 2022
- Broschüre Kompass Ernährung "Gemeinsam gut essen Ernährung in Kita und Schule"
- Vielfalt der Esskulturen
- Ernährung auch eine Frage des Glaubens
- Was glaubst du? Das Heft zum Islam
- Multi-Kulti in der Mensa
- Inklusiver Speisenplan (geeignet für Christen, Muslime, Juden, Buddhisten, Hinduisten und Vegetarier)
- Geert and Gert Jan Hofstede’s site
Praxisbeispiele:
- Schüler kochen für Schüler an der Erlenbachschule in Elz
- Selbstverpflegungskonzept an der Aliceschule – samt Müsli- und Salatbar
- Gartenbau an der Unterneustädter Schule in Kassel im Gemeinschaftsgarten „Blücher-Garten“
- Rubrik Beispiele gelingender Praxis der Vernetzungsstelle Schulverpflegung Hessen: Schulische Beispiele gelingender Praxis | Lehrkräfteakademie. hessen.de
Kontakt:
Für Rückfragen können Sie sich gerne an uns wenden.
Vernetzungsstelle Schulverpflegung Hessen
Jessica Füger
Telefon: 069 / 38989 367
E-Mail: Jessica.Füger@kultus.hessen.de
Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Hessen
Kanda Tatari
Telefon: 069 / 38989 286
E-Mail: Kanda.Tatari@kultus.hessen.de
Stand: Oktober 2022