Vielfalt ist nur eine unserer Stärken

Der Schritt zur gebundenen Ganztagsschule – keine kleine Aufgabe für eine Schulleitung

Ein Bericht von Birgitta M. Schulte

Kletterwand_Kastellstrasse.jpgKletterwand Kastellstraße

Ein altes Ehepaar schaut durch den Zaun der IGS Kastellstraße in Wiesbaden in den Klettergarten auf dem Schulhof. Der Ehemann hält den Rollstuhl seiner Frau auf dem leicht abschüssigen Bürgersteig gut fest, sie beobachtet gebannt. Lange stehen sie da im Sonnenschein. Es dauert nämlich lang, bis Meike in den Stufen einer Art Schiffsleiter hochgeklettert ist und das Seil erreicht hat, bis sie Fuß vor Fuß auf das zwischen zwei Pfosten gespannte Seil setzt, drei Meter über dem Boden.
Meike hat das Down-Syndrom. Eine genetische Abweichung verhindert, dass sie ebenso schnell und gewandt klettert wie ihre Mitschülerin Antje. Die gibt ihr die Zeit, wartet halt hinter ihr und isst derweil einen Keks, drei Meter über dem Boden. Meike ist eines dieser Kinder, die dem Schulleiter Gerd-Ulrich Franz Sorgen machen. Gerade weil sie soviel können und doch nicht ganz so weit sind wie die anderen.

Was geschieht mit den „Integrationskindern“ nach dem 9. Schuljahr? war seine Frage an das Kollegium. Sie ist ein Thema von Schulleitung einer Integrierten Gesamtschule.

Das 9./10. Schuljahr und die „Integrationskinder“ – ein Schulleitungsproblem

Kinder mit Beeinträchtigungen erwerben wie alle anderen den Hauptschulabschluss dann, wenn sie mit einem bestimmten Notenbild den Anforderungen der Grundkurse genügen und die Abschlussprüfung bestehen. Die anderen Kinder haben die Möglichkeit, ein zehntes Schuljahr zu machen und am Ende die mittlere Bildungsreife zu erreichen, den „Integrations-Kindern“ mit ihren - unterschiedlichen - Beeinträchtigungen kann das nicht gelingen. Sie sollten aber, meint Schulleiter Franz, die Möglichkeit haben, erworbene Fähigkeiten zu festigen. Wie ihnen eine Perspektive für das 10. Schuljahr geboten werden kann, ist eine Frage, typisch für eine Integrierte Gesamtschule.

Individualisiertes Lernen in 9 und 10.jpg„Wir würden erst nach der 10 die Hauptschulprüfung einsetzen. Für eine ‚IGS’ gehört das 10. Schuljahr dazu, aber die Bildungspolitik hat uns nicht im Blick. Sie finanziert ein Kind nur weiter, wenn Aussicht besteht, dass es den mittleren Bildungsab-
schluss schafft. Wir sind ein Spezial-
fall, und so sind uns besondere Klimmzüge aufgegeben“, sagt Gerd-Ulrich Franz. Die Kinder mit besonderem Förderungsbedarf und das 10. Schuljahr – das war ein Thema unter vielen, die die IGS Kastellstraße im November 2007 diskutiert hat.

Individualisiertes Lernen in 9 und 10

„Gemeinsames Lernen für alle bis Ende 10 ermöglichen“, hieß es da im Protokoll, „Projekt 9/10“, „Gemeinsame Schule 1-10, Lehrende, Eltern und Schülerschaft in einem Boot – Ganztagsschule“.
„Gebunden ganztägig“ – Antwort auf beinah alle Probleme.

Gebundenes ganztägiges Arbeiten erschien als Lösung für die Wünsche nach geringerem Zeitdruck, ruhigen Räumen, größeren Zeitflächen, einem lernförderlichem Klima, der Ausweitung des Projektlernens oder der Rhythmisierung des Unterrichts. Es war wohl der Generalschlüssel.
Ein Jahr später ging es schon um die genaue Ausgestaltung der gebundenen Ganztagsschule. Die Schulkonferenz hatte im Frühjahr 2008 den Antrag auf Umwandlung genehmigt. Die IGS Kastellstraße hatte sich auf den Weg gemacht, am 1.8.2009 eine „verbindlich ganztägig arbeitende Integrierte Gesamtschule“ zu sein.
„Manchmal müssen die Schritte groß sein, damit man den Gedanken erkennt“, sagt Robert Roth, pädagogischer Leiter und Mitglied im Schulleitungsteam, „Übergangslösungen, die keine wirksame Veränderung bringen, machen die Ursprungsidee blass.“ Das große Ziel kann einem Kollegium aber auch Atembeschwerden machen, vor allem, wenn es recht schnell erreicht werden will.

IGS Kastellstraße – Idee einer guten Schule

Zeit_und_Raum_Gestalten.jpgZeit und Raum gestalten
Dabei ist die Vorstellung von einer Schulgemeinde, die von 7.30 bis 16.00 Uhr zusammen lebt, ein Bild, das schon bei der Gründung der IGS-Kastellstraße gemalt wurde. Sie wurde 1988 auf Initiative von Eltern ins Leben gerufen. Sie wollten, die Wiesbadener Helene-Lange-Schule vor Augen, eine „andere“ Schule für ihre Kinder. „IGS“ buchstabierten sie als „Idee einer guten Schule“. „Und das ist mehr als Unterricht am Vormittag“, sagt Schulleiter Gerd-Ulrich Franz.

„Wir möchten Verständnis und Verständigung aller Schichten ermöglichen, wir wollen einen Querschnitt der ganzen Gesellschaft zusammenbringen.“ Die selbstgestaltete Mittagspause ist ein Mittel zu diesem Ziel. „Dann wird der Schulhof zum ‚Soziotop’“, sagt Gerd-Ulrich Franz. 

Schon 1993 beantragte das Gründungsteam die Ganztagsschule, erhielt aber die Zusage der Stadt Wiesbaden nicht. Ein Mittagessen aber musste sein, fanden die Eltern und organisieren es seitdem in eigener Regie. Fehlende Geldmittel werden durch einen Tanzkurs erwirtschaftet, den ein Elternpaar seit langem in den Schulräumen veranstaltet.
Seit 20 Jahren gibt es nach dem Essen neben der Hausaufgabenbetreuung auch verschiedene Arbeitsgruppen am Nachmittag, aber eben noch nicht die Integration von verschiedenen Lernformen, die Vormittag und Nachmittag zusammenbindet.

Jahrgangsteams schaffen Heimat

Die IGS Kastellstraße versteht sich als „Schule für alle Kinder“. „Je unterschiedlicher aber die Kinder, desto stabiler müssen die Beziehungen zu den Lehrkräften sein“, sagt Gerd-Ulrich Franz. Deshalb sollen Lehrerinnen und Lehrer ihre Schülerinnen und Schüler von der 5. bis zur 10. Klasse begleiten. Die Klassenleitung soll viel Zeit mit ihnen verbringen können. Die Idee dazu sind sogenannte Jahrgangsteams. Sechs Lehrkräfte stehen für einen Jahrgang zur Verfügung und die drei Klassen wohnen gemeinsam auf einem Flur.
Vor 1988 waren Gesamtschulen oft unüberschaubar. Die Fachlehrer, die durch alle Klassen wanderten, konnten ein einzelnes Kind nicht kennen. „Wie man das schulstrukturell und organisatorisch verbessert, das war meine Idee“, sagt Gerd-Ulrich Franz. „Aufmerksamkeit füreinander kann man durch Organisation unterstützen oder zerschlagen. Sie hängt zum Beispiel davon ab, ob es gemeinsame Räume gibt.“ Er war Primus inter pares im 14köpfigen Gründungsteam, ein Vordenker. Die Detailplanung erarbeiteten die KollegInnen.
Gerd-Ulrich Franz ist eine charismatische Persönlichkeit. „Ich wusste schon 1988, dass ich der Schulleiter werden wollte. Ich hatte 14 Jahre Erfahrung und wollte sie einbringen, wollte sicherstellen, dass meine Bilder von Schulentwicklung Wirklichkeit wurden.“ 2003 aber hatte Gerd-Ulrich Franz den Eindruck, die Schule stolpere über die Gleise, die die Schulleitung gelegt hatte.
„Das Handeln des Leitungsteams gräbt Spurrillen ein, die irgendwann kontraproduktiv werden. Und Jahresarbeitspläne für den Unterricht zum Beispiel verordnete ich ‚Top Down’ – deshalb versickerten sie.“

Betroffene sollen Beteiligte sein

Die IGS Kastellstraße ist eine eher kleine Schule von 450 Schülerinnen und Schülern, 40 Lehrerinnen und Lehrern und einem vierköpfigen Schulleitungsteam. Die Leitvorstellung, dass an Pädagogik und Organisation so weit wie möglich alle beteiligt werden, galt von Beginn an. Die Stimmen von Eltern und Schülerschaft und die des Kollegiums hatten großes Gewicht. Und doch war es zu diesem Von-oben-nach-unten gekommen. Der Schulleiter hatte es übernommen, den Anfangsimpuls weiterzutragen. Bis er den „Verkaterungsprozess“ bemerkte.

„Unlebendiges sah ich in vielen Schulen, vor allem in vielen anderen Schulleitungen“, sagt dagegen Christiane Steitz. Sie hat sich 1998 auf den Posten der stellvertretenden Schulleiterin in der IGS Kastellstraße beworben, weil die ihr anders erschien. Ihrem Eindruck nach war sich dort die Leitung bewusst, dass Veränderungen nicht über Nacht geschehen, dass Weiterentwicklung ein Prozess ist und eigene Fehler einschließt.
In der Zeit um die Jahrtausendwende hat sich das Verständnis der Leitung von Organisationen verändert. „Es gab sozusagen einen gesellschaftlichen Erkenntnisfortschritt“, sagt Christiane Steitz. Es wurde klar, dass es nicht wirklich wirksam und dauerhaft ist, wenn ein Schulleiter große pädagogische Ideen ins Kollegium einspeist. Man sprach nicht mehr von „führen“, sondern von „steuern“. Die IGS Kastellstraße hat diesen „Kulturwandel“ 2003 vollzogen.

Eine Schule entwickelt sich, unterstützt auch vom Zeitgeist

Inzwischen ist die Schulleitung zu „projektgestützter“ Arbeit übergegangen. Eltern, Lehrkräfte und - nicht ganz so repräsentativ - auch SchülerInnen werden aufgefordert, ihre Ideen zu formulieren. In Arbeitsgruppen werden die konkretisiert und die Umsetzung geplant. Diese „Projektgruppen“ arbeiten auf Zeit, sie lösen sich auf, wenn ein Ziel erreicht ist. Die Schulleitung bleibt dabei im Hintergrund, sie beobachtet, konfrontiert auch, aber sie geht nicht voran. „Das ist eine große Leistung unseres Schulleiters“, meint Christiane Steitz.
Von einem Kater würde auch Ursula Nixdorff-Rahn, die Stufenleiterin für die Klassen 7-10, nicht sprechen. Es war eine Art kreatives Tief. „Man kann nicht ununterbrochen gut gelaunt mit Pioniergeist arbeiten, aber es gab genügend, die sagten: wir lassen nichts schleifen. Wir haben uns Anregungen geholt, immer wieder, wie eine Treppe nach oben.“

Notwendig: Der Blick von außen

Die IGS Kastellstraße nutzt seit 1988 die Hilfe von Beratern. Sie holt sich Moderatoren für Klausurtagungen, Supervision für das Schulleitungsteam, Coaching für den Schulleiter. Er ist zudem in ständigem Dialog mit Netzwerken wie dem der reformpädagogisch orientierten Schulen mit dem Titel „Blick über den Zaun“, der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule oder dem Zusammenschluss der Wiesbadener Gesamtschulen. „Das hat wenig Rechthaberisches an sich“, meint Christiane Steitz, „wir versuchen voneinander zu lernen, und übernehmen, was anderen gut gelingt.“
Also gehen die  Kollegiumsmitglieder oft zu Fortbildungen. Sie machen der Stundenplankoordinatorin mehr Mühe als die Krankheiten.
In der Vorbereitung auf die gebundene ganztägige Schulorganisation muss besonders viel koordiniert werden, auch wenn es nur der Jahrgang 9/10 und seine Integrationskinder sind, die zunächst so lernen werden. „Da muss die Schulleitung Setzungen machen“, sagt der pädagogische Leiter Robert Roth, „im Rahmen des Auftrags der Gesamtkonferenz eben.“ „Aber wir treffen Vereinbarungen, nicht Anordnungen“, meint die stellvertretende Schulleiterin Christiane Steitz. „Das ist Steuern durch Transparenz“, sagt Schulleiter Gerd-Ulrich Franz. „Ich begründe, wenn ich Anweisungen gebe.“

Zeitkultur, Lernkultur, Arbeitskultur – dreimal ein gravierender Wandel

Die rufen zuweilen auch Widerstand hervor. So auch in dieser Phase, denn der „Kulturwandel“, den das gebundene ganztägige Arbeiten verlangt, ist enorm. Die neue Organisation soll ermöglichen, dass es Zeiten gibt für weitgehend selbstständiges Fachlernen nach Wochenarbeitsplänen, für Lernen in übergreifenden Projekten und für mehr „Individuelles Lernen“. Das bedeutet, dass sich die „Zeitkultur“ ändern muss, aber auch die „Lernkultur“ der einzelnen Schüler.

Gelingensbedingungen von „Selbstständigem Lernen“ früher und heute

Besonders gravierend ist die Änderung in der „Arbeitskultur“ der Lehrerinnen und Lehrer.
Nils Nolte, der seit 2002 an der IGS Kastellstraße Gesellschaftslehre, Sport und Naturwissenschaften unterrichtet, hat die Änderung schon vollzogen. „Ich lebe den Ganztag seit vier Jahren“, sagt er, „seitdem träume ich nicht mehr von der Schule.“ Nils Nolte bleibt täglich bis 16.00 Uhr, er bereitet seinen Unterricht in den Schulräumen vor, er telefoniert von hier aus mit Eltern oder anderen, wenn es seine Zusatzaufgabe Streitschlichtung erfordert. Nur die Korrektur von Klassenarbeiten erledigt er noch am Wochenende zu Hause. „Ich fand die Koordination meiner zwei Arbeitsplätze schwierig. Mich hat auch die Empfindung gestört, dass der Schreibtisch zu Hause mit dem Unerledigten ständig nach mir rief. Jetzt arbeite ich zwei Stunden länger in der Schule und habe dann aber auch alles hinter mir.“

Unterrichtsvorbereitung in der Schule?

Es gibt schon Arbeitsplätze für die sechs Lehrer eines Jahrgangsteams in ihrem jeweiligen Lehrerzimmer, drei davon sind Computerarbeitsplätze. Dennoch fühlen sich viele LehrerInnen bei dem Gedanken, dort ihre ganze Vorbereitung abzuleisten, nicht wohl. Manche brauchen die Ruhe des Alleinseins, andere wollen ihren persönlichen Fundus an Arbeitsmaterialien in der Nähe haben, Dritte sehen ständige Anfragen von Kindern und Kollegen auf sich zukommen. Eine Mehrheit fürchtet, dass freie Zeit entsteht, die sie nicht sinnvoll nutzen kann.
„Das Kollegium hat – mit den Eltern - einen Prozess herbeigenötigt und verhält sich nun so, als sei er ein Wunsch der Schulleitung.“ Schulleiter Gerd-Ulrich Franz findet das nicht einfach. Er nimmt nun an der Projektgruppe „Arbeitskultur“ teil und sucht mit nach den Gelingensbedingungen. Was brauchen die einzelnen an Rückzugsmöglichkeiten?

Kardinalproblem Kooperation

„Das Kardinalproblem aber ist die Kooperation“, sagt Gerd-Ulrich Franz. „Bisher war die Unterrichtsvorbereitung ein Nachdenken der einzelnen Person. Wenn die neuen Lernformen Wirklichkeit werden sollen, dann muss gemeinsam nachgedacht und geplant werden. In den letzten Jahren haben wir es nicht geschafft, Kooperation als Entlastung statt als Belastung zu sehen. Immer noch drückt die Mühe, nach gemeinsamen Terminen zu suchen, statt der Freude auf die Zusammenarbeit Platz zu machen.“
Die Fülle der Konferenz- und Verabredungstermine für die Lehrenden könnte sich auflösen, wenn alle länger zu gleichen Zeit im Schulgebäude wären. Welche Zeiten passen, wie lassen sie sich sicherstellen? sind Fragen, die sich die Projektgruppe stellt. Was muss präzise ausgesprochen und dann abgeschlossen sein? ist die Frage, die die Schulleitung sich stellt.

Ergebnisse der GA: Zusammenfassung
Ängste lassen sich aber oft nicht so einfach aussprechen. Es sind stumme Fragen, die so ähnlich klingen wie „Schaffe ich es körperlich, bis 16.00 Uhr aufmerksam zu bleiben?“; „Kann ich das, wenn sich meine Rolle als Lehrkraft in der neuen Arbeitskultur ändert?“; „Bin ich Schuld, wenn es scheitert? Scheitern schadet meinem Ruf!“
„Es schadet auch meinem Ruf als Stundenplankoordinatorin, wenn ich es organisatorisch nicht leiste“, sagt Christiane Steitz, „so wünsche ich mir, dass die anderen mich begleiten.“ Gewissheit vermitteln, dass alles klappt, das kann die Schulleitung nicht. Es bleibt nichts anderes übrig, als den Zweifel zu äußern. 

„Genau das ist unsere Methode. Wir versuchen möglichst viele Zweifel in uns selbst wahrzunehmen. Und dann sprechen wir die Ängste aus. Es muss ja auch nicht gleich zu Beginn alles perfekt sein.“

Meike, das Mädchen mit dem Down-Syndrom, sieht die Welt schon längst mit solchen Augen an. Die Kletterseile hängen noch nicht an den richtigen Stellen der Kletterwand, ihr Sportlehrer müht sich, sie zu befestigen. Meike öffnet ihr Heft, das mit einem glänzenden Zauberer beklebt ist, und beginnt ruhig mit den Hausaufgaben.

Weitere Informationen

Autorin: Birgitta M. Schule
Fotos: Christa Gramm, Robert Roth (IGS Kastellstrasse)
Datum: 27.05.2009
© www.hessen.ganztaegig-lernen.de