"...weil andere von uns lernen können"

Schullogo

Das Schuldorf Bergstraße ist eine selbstbewusste Ganztagsschule

Ein Bericht von Birgitta M. Schulte

Ein älterer Mann im Norwegerpullover quert im Schritt des Nordic Walking das Schulgelände. Das Schuldorf Bergstraße, eine kooperative Gesamtschule mit Primarstufe, Internationalem Schulzweig, Gymnasialer Oberstufe und Ganztagsangebot, liegt nämlich mitten im Wald – in einem Wäldchen, um genau zu sein. Die Schulgebäude durchsetzen die Kiefern auf der Sanddüne zwischen den Gemeinden Seeheim und Jugenheim an der Bergstraße. Das Kiefernwäldchen ist Naherholungsgebiet. Großeltern begleiten ihre Enkeltochter, die gerade Fahrradfahren lernt. Der Großvater vorn, die Großmutter hinten, steuern sie auf den Schulparkplatz zu. Am oberen Rand des Schulgeländes rollt zur gleichen Zeit ein Altenheimbewohner seine Frau im Rollstuhl über die Schulhöfe. 
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Es gibt keine Zäune. Das Schuldorf Bergstraße ist offen für alle. Es ist „Community School“, 1954 im Nachkriegsdeutschland nach amerikanischem Vorbild gegründet. Es ist eine Schule, die vom Interesse der Gemeinde getragen wird und sich mit ihrer Arbeit zum Gemeindeleben hin öffnet.
Deshalb wunderte sich niemand, als eine Bürgerin kam und fragte: „Gibt es denn keine Betreuung für Grundschulkinder, deren Eltern es sich nicht leisten können?“ Die Schulleitung fühlte sich nicht angegriffen. Sie vermittelte und schon bald konnte ein neuer Baustein im Ganztagsschulkonzept verwirklicht werden.
Zum reformpädagogischen Konzept aus der Gründungsphase gehört auch die Betreuung vor dem Unterricht und in den Ferien, der Spätdienst ist dazugekommen. Der Anfang des ganztägigen Lernens aber waren Angebote am Nachmittag für die kooperative Gesamtschule. Eine durchgehende Verzahnung gibt es noch immer nicht, der Rhythmus zwischen Unterricht und Freizeit-Bildung am Nachmittag kann nicht immer geändert werden. Zu viele Schularten müssen miteinander koordiniert werden. Da gibt es die Förderstufe, den Hauptschul-, den Realschul- und den Gymnasialzweig und die Gymnasiale Oberstufe. - Die Primarstufe hat seit 2008 ein eigenes Ganztagsangebot. Kindergarten und die Preschool der Internationalen Schule sind getrennt zu sehen. Die öffentlich-rechtliche internationale Schule ist als Teil des Schuldorfs eine echte Ganztagsschule.
In der kooperativen Gesamtschule ist die Zahl der Arbeitsgruppen heute riesengroß. Das Angebot reicht von Astronomie bis Chinesisch, von Schulradio bis Theater, von der Big Band bis zur Ausbildung als Schulsanitäter. „Wir werden kompetent unterstützt“, sagt Schulsprecher Simon Kraft. „Da ist eine große Vielfalt, ohne dass wir lange Wege in Kauf nehmen müssen.“

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Die Angebote sind auf den Lehrplan abgestimmt. Zeitlich verknüpfen sich die AG’s mit dem Wahl- und Wahl-Pflicht-Unterricht. Das Schuldorf Bergstraße schließt dazu Kooperationsverträge, zum Beispiel auch mit den Sportvereinen. Es ist ein Geben und Nehmen. Für die Schülerinnen und Schüler ist Ropeskipping (Seil Springen), Inlineskating oder Badminton kostenfrei, die Vereine gewinnen neue Mitglieder. Es gibt feste Strukturen einer regelmäßigen Kooperation. Damit erfüllt das Schuldorf Bergstraße in diesem Bereich ein Qualitätskriterium.

Die große Offenheit der Schule zeigt sich auch an ihrer Zusammenarbeit mit den Eltern. „Sie sitzen in allen Ausschüssen“, meint Schulsprecher Simon Kraft. „Eine nette Mannschaft, wir sind nah zusammen.“ Für Schulleiter Ronald Seffrin sind die regelmäßigen Treffen zwischen Lehrkräften, Eltern und Schülern eine Absicherung der Qualität seiner Schule und auch des Ganztagsangebots. Die Jahresplanung folgt der Evaluation. Die Eltern äußern sich -  ob das Essen schmeckt, wie die Organisation klappt, wie glücklich oder unglücklich ihre Kinder sind. Und wenn es nötig wird, umzusteuern, dann lässt sich auch eine Neuorganisation ganz schnell durch alle Gremien bringen. Als der Stau vor der Essensausgabe zu groß wurde, dauerte es nicht lange, bis das Mittagessen für 220 Kinder im „Funky Food“ und in der Mensa „Oase“ in zwei Schüben gereicht werden konnte.

Ehrgeizig legt die Schule großen Wert darauf, gesundes Essen anzubieten – als Frühstücksverkauf, Mittagessen und Nachmittagsimbiss. Auch in diesem Bereich erfüllt das Schuldorf Bergstraße die Anforderungen der höchsten Qualitätsstufe: drei Sterne bzw. drei Kochmützen wären ihm sicher. Die Zutaten kommen weitgehend aus der Region, das vom Caterer Angelieferte wird durch Salate und Obst ergänzt. „Gesundes Essen den ganzen Tag“ – damit das auch wirklich stimmt, haben Eltern die Initiative „Snack Attack“ gegründet. Mütter stehen im Kiosk bereit, die Versorgung abzusichern – was die Zwölftklässler nicht hindert, sich im Supermarkt das wirklich Wichtige zu besorgen.  

„Oase“ – Essen, Hausaufgaben und Spielen

Seit 2001 wird das Ganztagsangebot immer weiter entwickelt, seit 2007 gibt es endlich passende Räumlichkeiten. Das neue Ganztagsgebäude wird von den Schülerinnen und Schülern liebevoll „Oase“ genannt, obwohl es sehr klein ist. Dort gibt es eine Mediathek in der linken Gebäudehälfte und eine Mensa, einen Raum für die Hausaufgaben und einen Raum für die Entspannung in der rechten Hälfte. Im Prinzip ist das Ganztagsgebäude für alle offen. Die Älteren fühlen sich dennoch ein bisschen heimatlos. Vier Freistunden – das kommt vor in der elften Klasse. „In den Pausen und um 14.00 Uhr ist die Mediathek zu. Dann pendeln wir in die Mensa und zurück“, sagt Sophia Helfrich. „Die Klassenräume müssen abgeschlossen werden. Eine richtig große Kantine wäre cool.“ „Aber für die Kleinen ist das echt gut geregelt“, meint Sandra Kelly, die eine jüngere Schwester hat.

SBS_Bild03Sie können Spiele ausleihen, Hausaufgaben machen, sich entspannen - von 11.30 bis 14.00 Uhr sind die Räume für alle offen und eine Erzieherin steht vor und nach dem Mittagessen bereit.
Wer bis 16.00 bleiben will, muss sich zur „Rhythmisierten Lernzeit“ anmelden und bezahlen.
Von 350 Schülerinnen und Schülern der 5/6. Klassen nutzen 80 diese Betreuung.
In der Internationalen Schule ist das anders. Eltern, die in weltweit agierenden Konzernen arbeiten, finden es selbstverständlich, dass die Kinder auch am Nachmittag in der Schule sind.

Alle Eltern bezahlen hierfür einen Kostenbeitrag. Hier bleiben 210 von 350 – einfach, weil ihre Freunde auch da sind.

„Im ersten Jahr wollte sie nicht hin“, sagt Sandra über ihre Schwester. „Jetzt aber geht Romina richtig gern.“ Darüber freut sich besonders ihre Mutter. Sie erzieht allein und ist berufstätig. Oft auch müssen beide Eltern arbeiten und können nicht für das Mittagessen sorgen. Die Kinder bleiben, weil sie müssen. Und entdecken dann die Vorteile. Anket zum Beispiel findet es gut, dass er hier jemanden zum Basketball Spielen hat. Julien gefällt alles, das Essen, die Betreuung – er ist froh über „den Kreis. Da kann man sagen, wie es einem geht.“

Im „Kreis“ – emotionale Betreuung

Sich gemeinsam in den Kreis zu setzen, das ist das große Ritual, mit dem die Betreuungszeit beginnt. Bis zu drei Steinen bekommt jedes Kind. Nacheinander legen die Mädchen und Jungen die Steine auf konzentrische Kreise, die auf das große Stofftuch in der Mitte aufgebracht sind. Außen ist Zehn und innen ist Null. „Mir geht es heute zehn“, sagt Imam, „weil ich zwei Mathearbeiten Eins plus geschrieben habe, und drei, weil die Anna nicht da ist.“ Lukas legt einen Stein auf die Zehn, „weil heute die Sonne scheint,“ einen auf die Null, „weil ich meine Brille vergessen habe“, und den letzten wieder auf die Zehn, „weil heute – Freitag – Wochenende ist.“ Anket legt dreimal die Null.
Auf solche Kinder achten die Sozialpädagoginnen und Erzieherinnen besonders. Sie sprechen sie an, wenn sich eine Gelegenheit dazu ergibt. „Das ist für mich das Wichtigste“, sagt die Sozialarbeiterin Melanie Roth, „die emotionale Betreuung. Den Kindern einen Raum bieten zwischen Schule und Zuhause.“
Der „Befindlichkeitskreis“ ist ein Übergangsritus, eine Erholungsphase nach den langen Unterrichtsstunden. Die Kinder lernen hier sich zu sammeln, ruhiger zu werden. Sie können danach die „Entspannung“ fortsetzen oder sich in die andere Neigungsgruppe einwählen und Bewegungsspiele machen. Erst dann beginnt die eigentliche „Lernzeit“, das Erledigen der Hausaufgaben. Ab 15.00 Uhr werden kreative Projekte angeboten und nach dem Malen oder Basteln kommt das Aufräumen.
Die Nachmittagsbetreuung hat einen bestimmten, sich wiederholenden Rhythmus von Entspannung und Anspannung. Das ist das Verdienst Ziva Mergenthalers, die das Betreuungsangebot entwickelt hat. Die Hausaufgabenphase ist ihr wichtig als eine Zeit ist, in der das Lernen gelernt wird. Methodenlernen, Zeitmanagement und ‚wie man Konflikte löst’ gehören zum gar nicht heimlichen Lehrplan der „Lernzeit“.

Wissenschaftlich fundiert – pädagogische Betreuung auf hohem Niveau

„Ich wollte nicht bloßes Verwahren, ich wollte Qualität in der Betreuung“, erinnert sich die pädagogische Leiterin Hildegard Jansohn. Sie stellte Ziva Mergenthaler ein, eine Erziehungswissenschaftlerin. „Ich wollte eine Leiterin der Ganztagsbetreuung, die die Qualität weiter ausbaut.“ Das Geld, das das Hessische Kultusministerium (HKM) für eine Stelle in Haushaltsmitteln zur Verfügung stellte, musste hierfür ausgegeben werden. Das wurde zunächst nicht akzeptiert. „Wir haben uns dafür eingesetzt“, sagt Hildegard Jansohn. „Schließlich ist unser Konzept in die Leitlinien des HKM eingeflossen.“
Es ist eine große Zahl von pädagogischen Mitarbeiterinnen und einem Mitarbeiter, die heute im Schuldorf arbeiten. Für die kooperative Gesamtschule allein sind es sieben. Dazu kommen 17 geschulte Schülerinnen und Schüler, die die Hausaufgaben begleiten. Auch das ist eine Idee Ziva Mergenthalers. Die Erziehungswissenschaftlerin bemerkte aber schon 2001, dass auch die Jugendlichen eine „pädagogische Plattform“ benötigen. Sie wussten zunächst nicht, wie sie sich bei Konflikten verhalten können. „Oder wie ich etwas durchsetze, zum Beispiel, dass in der Hausaufgabenphase nur geflüstert werden darf, das habe ich im Unterricht gelernt“, sagt Zwölftklässlerin Daniela Lange.
Im Wahlpflichtunterricht in der Mittelstufe können Schülerinnen und Schüler die Schulung wählen. Sie erhalten pädagogisches Grundwissen, hospitieren in drei Betreuungsvarianten und üben in Rollenspielen. Für die Arbeit, die sie dann als Mitglieder der Oberstufe erledigen, erhalten sie 7,50 Euro pro Stunde. Das ist weniger als im Supermarkt, aber Daniela Lange gefällt es in der Schule einfach besser. Die Kleinen grüßen sie jetzt, wenn sie von einem Schulhof zum anderen geht. „Ein Junge hatte Probleme beim Vokabelnlernen. Ich habe speziell für ihn ein Lernkonzept entwickelt. Dann hatte er Erfolg.“ – Eine große Bestätigung. „Ich helfe den Kleinen, dran zu bleiben bei den Hausaufgaben. Das ist eine Chance, die sie im Elternhaus nicht haben“, sagt Daniela Lange. Und: „Ich sehe sie aufwachsen!“

Unterricht und sozialpädagogische Betreuung – Integration der Systeme

„Bei uns ist immer alles ein bisschen im Fluss“, sagt Schulsprecher Simon Kraft. Der vorläufig letzte Schritt im Ausbau des Ganztagsangebots war 2008/9 die „Eingemeindung“ des Kinderhortes der Gemeinde Seeheim-Jugenheim in die „Ganztagsbetreuung Grundschule“, ein weiterer Beweis für den Austausch zwischen der örtlichen „Community“ und der Schule. Seit 2007 haben Hort, Schule und Eltern in vielen Treffen abends und am Nachmittag an einem Konzept gearbeitet und die engagierte Bürgerin hat kräftig mitgeholfen. „Am Anfang war das alles andere als reibungslos“, sagt Ziva Mergenthaler. „Da gab es viele Ängste.“ Die pädagogischen Mitarbeiterinnen der Schule fürchteten ihren Job zu verlieren, die Hortmitarbeiterinnen hatten Angst, mit weniger Personen mehr Kinder betreuen zu müssen. Der Ausschuss der Gemeinde glaubte, das Qualitätsniveau des Horts bliebe nicht erhalten. Um das Miteinander wurde gerungen, erfolgreich. Jetzt gilt: „Wir wollen etwas Tolles miteinander entfalten.“ Das ist eine Verbindung der unterschiedlichen Sichtweisen und Strukturen von Schule und Jugendhilfe. „Eine Integration der Systeme“, sagt Schulleiter Roland Seffrin. Der Hort brachte die Erlebnispädagogik im „Playgarden“ ein, die Schule hat verständlich machen können, dass Hausaufgaben eine wichtige Erweiterung des Unterrichts sind. Deshalb sollen die Kinder, auch die aus bildungsfernen Elternhäusern, von der Lernzeit profitieren. „Pädagogische Inclusion“: Kinder, Eltern, MitarbeiterInnen, Kommune, alle sollen wirklich teilhaben. Das Modell der „Lernzeitpaten“ gehört auch dazu. Erwachsene können einen Platz finanzieren oder selbst Nachhilfe geben.

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Wie ein Spürhund – Finanzierungen suchen und finden

Im Dezember 2009 wurde das Schuldorf Bergstraße eingeladen, sich auf dem 5. Ganztagsschulkongress in Berlin vorzustellen. Es wurde ausgewählt, „weil wir anderen Schulen etwas zu bieten haben.“ Das ist einhellige Meinung. „Ja“, sagt Pädagogische Leiterin Hildegard Jansohn, „wir können Mut machen. Wir sind ein Beispiel dafür, dass sich gute Pädagogik machen lässt, auch wenn die finanzielle Ausstattung unzureichend ist. Wie ein Spürhund! Mit Lust nach Möglichkeiten suchen, dann geht vieles.“ Mit Tauschgeschäften zum Beispiel.
Es gab Mütter, die eine Betreuung für ihr Kind nicht bezahlen konnten. Sie haben dafür in der Küche gearbeitet. Die erfolgreiche Arbeit im Team hat sie selbstbewusst gemacht. Heute sind sie angestellt und arbeiten bezahlt.
Wenn das Geld fehlt, dann kommt ehrenamtliche Hilfe für das bunte Nachmittagsprogramm. Dann kommt jemand aus dem Ort und betreut die Metallwerkstatt, ein anderer entwickelt mit Schülerinnen und Schülern eine Zeitung, ein dritter stellt Kontakte zu außereuropäischen Partnern her.
Es geht nicht alles kleinteilig, für große Schritte braucht man auch großes Geld. „Man muss einfach an vorderster Front sein“, sagt Hildegard Jansohn. Wenn man zeigt, was man schon hat, hat man am ehesten Chancen, in Förderprogramme des Kreises oder des Landes aufgenommen zu werden. „Es ist wie unser Gelände hier: offen und weit. Und bei uns gibt es viele Schleichwege.“

Weitere Informationen

Autorin: Birgitta M. Schule
Fotos: Felix Adams, Christoph Horn, Margit Bielke (Schuldorf Bergstraße)
Datum: 21.01.2010
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