Wir gehören zusammen. So geht es uns gut!

GS OV Schullogo von Kindern entworfenReformpädagogik und Ganztagsbetrieb ermöglichen der Grundschule Obervorschütz die Inklusion

Ein Bericht von Birgitta M. Schulte

„Die Furcht Gottes ist der Anfang der Weisheit“. Die Losung über dem ehemaligen Eingang des alten Dorfschulhauses aus dem Jahr 1909 ist nicht weggekratzt, nicht übermalt, nicht zugedeckt. Das Banner, das die Grundschule Obervorschütz als „Umweltschule“ ausweist, hängt daneben.

Das Schullogo von Kindern entworfen ziert alle Dokumente der Schule

Es zeigt: in dieser Schule gelten ethische Grundprinzipien. Die Schule hat sich selbst verpflichtet auf „eine Bildung zu einer nachhaltigen Entwicklung“. Zur Nachhaltigkeit gehören als wichtigste Ziele „Bewahrung, Gerechtigkeit, Demokratie lernen.“ Insofern versteht sich die Grundschule Obervorschütz in der Nähe von Fritzlar als eine „Schule der Achtsamkeit“ – „Kinder lernen frühzeitig Verantwortung zu übernehmen für Menschen und für Sachen.“

GS OV KinderkonferenzEin Kind präsentiert in der Kinderkonferenz

„Achtsamkeit“, sagt Schulleiterin Bärbel Reinhardt, „ist der Schlüssel zur Inklusion.“ Sie sagt es mit großem Ernst, während sich ihr Blick nach innen wendet. Das Menschenbild sei entscheidend dafür, dass außergewöhnliche Kinder wirklich teilhaben können.

Das Menschenbild einer Schule wird geprägt durch die Grundsätze all derer, die ihren Alltag tragen. Das sind in Obervorschütz 7 Lehrerinnen, eine Sozialpädagogin, eine Erzieherin in der Betreuung. Sie haben sich in einem anderthalbjährigen Prozess gemeinsam mit den Eltern der Schulkonferenz zu ihrem Schulprogramm durchgerungen. „Bewahrung“ wird darin unter anderem übersetzt als „Bewahrung der Kindheit“. Dieser Geist ist spürbar.

Hier toben und disziplinieren sich freie kleine Menschen. Auf dem Schulhof spielen sie Fußball, rennen, lachen. Sie kugeln in Plastikwannen herum und üben mal schnell eine Zirkusnummer. Drei Mädchen auf dem Einrad, verbunden durch offene Hula Hoop Reifen, lassen sich von einer Vierten ziehen. Am Ende der Pause wird aufgeräumt, nach vorab festgelegter Ordnung und ohne Murren.

GS OV Plakate AemterPlakate für Ämter

Es gibt Schulregeln, und sie werden eingehalten. Zum Beispiel: „Ich renne nur auf dem Hof, nicht im Schulhaus“, „Ich bin leise im Treppenhaus“, „Ich nehme Rücksicht auf Schwächere“. Es sind ganz normale Regeln, die ein auskömmliches Miteinander garantieren. Gleichzeitig schaffen sie Raum für die außergewöhnlichen Kinder.

Zur Zeit sind es acht unter insgesamt 112 Kindern. Die teilen sich auf in fünf Lerngruppen. Zwei sind aus Kindern der dritten und vierten Klassen gebildet, drei Lerngruppen aus Kindern der Vorstufe, des ersten und zweiten Jahrgangs. Unter diesen Kleinen finden sich zur Zeit die Sehbehinderten, die Lernhilfe-Kinder oder die körperbehinderten Kinder, die zudem Lerneinschränkungen mitbringen.

„Eltern bringen ihre Kinder, weil wir die Erfahrung haben und das Konzept“, sagt Bärbel Reinhardt. Schon vor 30 Jahren hatte ihr Vorgänger Paul Wolff mit der „gemeinsamen Beschulung“ begonnen. Er machte aus dem Geist der Reformpädagogik heraus „Schule für alle“. „Eine große wechselseitige Wertschätzung“ bemerkte Bärbel Reinhardt, als sie dazu stieß.

GS OV Arbeitsplan an der Wand für die FünfjährigenArbeitsplan an der Wand

Damals gab es schon die Jahrgangsmischung, Lernorte draußen, Wochenplanarbeit. „Die Schule ist immer noch außergewöhnlich im Umfeld von Kassel“, sagt Eva Valach-Fülster, die als Lehrerin aus diesem Grund dabei ist. „Ich würde mich in einer regelhaften Schule eingeengt fühlen. Unterricht, in dem alle Kinder zur selben Zeit dasselbe machen, das könnte ich nicht.“

GS OV MorgenkreisDer Morgenkreis wird von Kindern geleitet

In der Grundschule Obervorschütz beginnt nach dem Morgenkreis die Freiarbeit. Die Kinder bestimmen hier ihr Lerntempo selbst. Sie haben mit der Schulleiterin und der Klassenlehrerin Zielvereinbarungen abgeschlossen. Der reformpädagogische Ansatz und - neu eingeführt - der Ganztagsbetrieb schaffen Luft und Rahmen für das Mitlernen der außergewöhnlichen Kinder.

An zwei Tagen in der Woche bleiben auch die Kleinen bis 16.00h. „Soviel Selbstverantwortlichkeit wie möglich, so viel Zuwendung wie nötig.“ Das kooperative Lernen steht im Vordergrund. So wird auch gefragt: wieviel an Betreuung der Behinderten können die Kinder übernehmen? Sie sind die besseren Lehrer.

Kind arbeitet am WochenplanKind arbeitet am Wochenplan

GS OV Lernpass schreiben
Lernpass schreiben

„Wir gehören zusammen. So geht es uns gut!“ ist ja die Überschrift über den Regeln. Was nicht heißt, dass der Alltag stets so sonnenüberstrahlt ist wie das Blatt, das die Regeln veranschaulicht. In einer Lerngruppe der Großen übernimmt die Kunstlehrerin den Unterricht nach dem Religionslehrer und bemerkt, dass sie die begonnenen Arbeiten der Kinder im Auto vergessen hat. Gleichzeitig trifft sie auf Sonja*, eines der außergewöhnlichen Kinder, Sonja, die heute Geburtstag hat und daher unbedingt ihr Lebensleporello vorlesen will. Das ist Tradition. Am Geburtstag wird die von der Mutter formulierte Lebensgeschichte vorgelesen. Den Geburtstag aber gestaltet die Klassenlehrerin, da möchte die Kunstlehrerin nicht vorgreifen. (*Name von der Redaktion geändert)

Sonja jedoch möchte im Mittelpunkt stehen, sie hat es sich in den Kopf gesetzt und zieht und zerrt. Sie ist größer als die anderen Kinder, auch stark. Oft legt sie den Kopf schräg. Wenn sie schreibt, tut sie es stehend, verkrampft. Immer wieder kommt sie nach vorn und will das Leporello an sich reissen, bis ihre Assistentin sie gegen ihren Willen aus dem Klassenraum holt.

Am Ende der Stunde verlässt die Kunstlehrerin erschöpft den Raum. Ein Mädchen hatte ihr einen „Liebesbrief“ geschenkt, aber auch den hatte Sonja stibitzt und gelesen. Die Lehrerin hat Ohnmacht erfahren müssen und wirft sich eigenes Unvermögen vor. Im Gespräch mit der Schulleiterin wird alles aufgehoben – im doppelten Sinn.

Bärbel Reinhardt hat Zeit in solchen Situationen. Sie versucht, „den Druck herauszunehmen“. In der Stundenvorbereitung etwas zu vergessen ist Lehrerinnenalltag. Gleichzeitig mit den starrköpfigen Eigenheiten eines Kindes fertig werden zu sollen, das nicht in vollem Umfang für sein Handeln verantwortlich gemacht werden kann, ist Alltag in einer Integrationsklasse. Was hätte es für Handlungsmöglichkeiten gegeben? Wäre es sinnvoll, das Erlebnis in die Kollegiale Beratung einzubringen? Wie verschiebt sich der Gruppenfokus, wenn ein behindertes Kind hohe Aufmerksamkeit erfährt?

GS OV Gemeinsames Mittagessen mit der KlasseGemeinsames Mittagessen mit der Klasse

Die Kunstlehrerin geht beruhigt nach Haus, mit neuem Mut für einen nächsten Versuch. Sie kommt am Speise-Raum vorbei, in dem eine Lerngruppe der Kleinen mit Lehrerin und Integrationshelferin zu Mittag isst. Anschließend ist Tobepause auf dem Hof. Sie wird von der Erzieherin beaufsichtigt, die anschließend alle zur Betreuung angemeldeten Kinder einsammelt. Heute gibt es die Möglichkeit, Selbstverteidigung zu lernen. Ein junger Trainer vom Sportverein ist da.  

Andere Kinder werden abgeholt. Anette Sandrock will ihre Tochter mitnehmen, ein Mädchen, das zu früh geboren wurde. Fiona wuselt aber noch herum. „Wir sind glücklich hier,“ sagt die Mutter. „Hier ist es familiär, es sind nicht so viele Kinder da, so dass auf die einzelnen eingegangen werden kann. Außerdem gibt es hier viel Naturerleben und viel Musik, das ist genau das, was unserem Kind guttut.“ Es gibt ja das Freiland-Labor am Bach „Ems“, die Projekte mit dem Förster im Wald und auf dem Schulgelände die Kräuterspirale, das Insektennisthaus, das Schwalbenhaus und den Teich. Und bald auch einen Klanggarten. Den bauen gerade die „Seehunde“ in Gemeinschaftsarbeit.

GS OV Forschen am DorfbachForschen am Dorfbach

Das Highlight der Woche ist der Chor. Da singt Fiona mit allen zusammen. Die Grundschule Obervorschütz hat zuerst das Programm „Jedem Kind ein Instrument“ absolviert und dann die Musikschule integriert. Die Eltern müssen ihre Kinder nicht abholen und zum Privatunterricht bringen. Sie dürften das ohnehin nicht mit dem Auto tun. Das gehört zum Nachhaltigkeitsschwerpunkt.

„Wir machen eine intensive Elternarbeit“, sagt Bärbel Reinhardt. „Wir wollen Verantwortung und Verantwortlichkeiten teilen. Wir begründen unsere Arbeit.“ Es reicht nicht, das Schulprogramm zum Lesen zu verteilen, wenn neue Eltern, neue Lehrerinnen, neue Integrationshelferinnen dazu kommen.
Die Achtsamkeit will immer wieder neu erarbeitet werden. Immer wieder müssen die institutionellen Strukturen, Verfahren und Lernziele auf das Leitbild hin überdacht werden.

Nur so ergibt sich eine Schule der Vielfalt, die von sich aus allen gerecht werden kann. In die Grundschule Obervorschütz wird nicht nur eingegliedert, wer auf Integrationsfähigkeit überprüft ist. Die Schule ist durch ihre Organisationsform offen. „Hier kann sich jeder einbringen,“ sagt Bärbel Reinhardt.

Autorin: Birgitta M. Schulte
Fotos: 
Grundschule Obervorschütz
Datum: 10.02.2012
© www.hessen.ganztaegig-lernen.de

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Kontakt:

Bärbel Reinhardt (Schulleitung)
Baerbel.Reinhardt@t-online.de

Grundschule Obervorschütz
Burggraben 1, 34281 Gudensberg-Obervorschütz
www.grundschule-obervorschuetz.de