Ideen für ein neues Miteinander und eine neue Lernkultur

 

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Bericht über den Landeskongress der Serviceagentur “Ganztägig lernen“ Hessen
am 25. September 2014

 Ein Bericht von Jacqueline Engelke

Das Foyer im Haus der Kirche in Kassel füllt sich an diesem Donnerstagmorgen schnell.

Rund 240 Lehrkräfte, Mitarbeitende von Schulträgern, Horten oder Staatlichen Schulämtern sind aus ganz Hessen angereist zum mittlerweile siebten Landeskongress der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Hessen zum Thema „Zeit(T)raum Ganztagsschule – Zeiten planen, Räume gestalten, Beziehungen pflegen“. Sie stehen vor Beginn des offiziellen Teils an den kleinen Tischen im Haus der Kirche in Kassel, trinken einen Kaffee und unterhalten sich angeregt. Jeder bringt ganz eigene Erwartungen mit. Eine Schulleiterin aus Südhessen möchte an der Grundschule den Ganztag auf den Weg bringen und erwartet von der Tagung Anregungen dazu. Eine Lehrkraft einer Integrierten Gesamtschule erhofft sich einen Input zur Rhythmisierung und die Mitarbeiterin einer Kita möchte Tipps mitnehmen, wie sich die Zusammenarbeit zwischen den Professionen und die Teamstrukturen an der Grundschule noch verbessern lassen.

Aktuelle Fragen aufgegriffen

Die Bandbreite der Erwartungen traf auf eine Vielfalt von Inhalten, die in der Tagung in einem Vortrag, acht Workshops und zwei Foren aufgegriffen wurden. Mit Themen wie der Einführung von individuellen Lernzeiten statt Hausaufgaben, den Teamstrukturen, der Rhythmisierung, der Beziehungskultur, der Gestaltung von Lernräumen oder der veränderten Lernkultur griffen die Veranstalter aktuelle Fragen der Ganztagsschulen auf. Stefanie Welke und Jürgen Wrobel von der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Hessen luden die Teilnehmenden in ihrer Begrüßung dazu ein, Visionen und Ideen zu entwickeln für ein neues Miteinander und eine neue Lernkultur. Kassel habe dazu viele aktuelle Modelle vorzuweisen. Auf den großen Erfahrungsschatz zum Thema Ganztagsschule in Kassel verwies auch die für Jugend, Schule, Frauen und Gesundheit zuständige Dezernentin der Stadt, Anne Janz. Kassel gehört auch zu den Pilotkommunen für den neuen „Pakt für den Nachmittag“ für Grundschulen, an dem das Land und die Kommunen beteiligt sind.

Auf diesen Pakt ging auch Wolf Schwarz vom Hessischen Kultusministerium ein. Der Pakt beinhalte das schwierige Unterfangen, Kommunal- und Landesrecht in Übereinstimmung zu bringen. Andere Länder hätten schon länger den Schwerpunkt auf Grundschulen gelegt, Hessen habe hier Nachholbedarf. Für die Pilotschulen stehen bei diesem Pakt 145 Stellen zur Verfügung. Maren Wichmann von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung ging in ihrem Grußwort auf die veränderten Konzepte vom Raum und Beziehung im Ganztag ein. Schule sei für die Schüler/-innen vor allem ein Ort der Begegnung.

Die Einteilung der Zeit im Ganztag

Foto Landeskongress 2Mit der Frage der Einteilung von Zeit im Ganztag befasste sich die Bildungsforscherin Dr. Ilse Kamski. „Rhythmisierung und die Veränderung der Lernkultur“ standen bei ihrem Vortrag im Mittelpunkt. Die Referentin bot einen Überblick, wie Schule Entscheidungen zur Rhythmisierung systematisieren und strukturieren kann. Ziele der ursprünglichen Idee waren ein „Streben nach einer kindgemäßen Schule“, der Schulalltag sollte entzerrt werden, Anspannung und Entspannung wechseln. Sie empfahl den Anwesenden, ihre Ziele und Konzepte zu klären, eine Bestandsaufnahme der an der Schule vorhandenen Modelle von Zeitstrukturierung zu erstellen, anschließend die Bereiche für notwendige Veränderungen zu benennen und zu evaluieren.

Unterteilt wird in die Äußere Rhythmisierung, die auf der Ebene der Schule geschieht und durch die Schulorganisation gelenkt wird. Dazu gehören zum Beispiel ein offener Anfang, Entspannungsphasen, Blöcke und Pausen. Die sogenannte Innere beziehungsweise Binnenrhythmisierung bezieht sich auf die Unterrichtsebene und wird durch die Lehrkraft gelenkt. Schließlich ist die Individuelle Rhythmisierung auf der Individualebene angesiedelt und wird durch das Kind beziehungsweise den Jugendlichen gelenkt. „Sie müssen entscheiden, welche Systematisierung sie wählen und auf welcher Ebene sie sich bewegen“, erläuterte die Referentin.

Nicht nur in diesem Referat, auch in den Workshops und den Foren am Vor- und Nachmittag wurde deutlich, was eine Teilnehmerin in einem Workshop feststellte: „Ich habe verstanden, dass Ganztagschule ein Prozess ist.“ In diesem Prozess gilt es, das Selbstverständnis von unterschiedlichen Beteiligten und Professionen zusammenzubringen, um ein gemeinsames Konzept und Ziele zu entwickeln und an deren Umsetzung zu arbeiten.

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Welche Fragen und Themen in diesem Prozess auftauchen, machten unter anderem die beiden Foren am Vor- und Nachmittag deutlich. Zu beiden Foren hatten die Moderatoren Stellwände mit Fragen oder Aussagen aufgestellt, die zum Mitmachen anregten. Im Forum 1 am Vormittag setzten sich zehn Stationen ganz praktisch mit Fragen zum Ganztag auseinander. Wer mochte, konnte sich zur Abschaffung von Hausaufgaben auf einen Rollenwechsel einlassen und unter anderem in die Rolle von Lehrkräften, Erzieher/-innen oder Eltern schlüpfen. Wertschätzung und wie sich Augenhöhe erreichen lässt, war Thema einer weiteren Station. Der Mittagstisch und die Klärung von Fragen wie „Sitzordnung oder freie Sitzplatzwahl?“ und „Wie soll der Speiseplan aussehen?“ eine andere.

Bevor sich die Teilnehmer/-innen zu diesen Stationen aufmachten, erläuterte Christa Ment, Koordinatorin des Projekts „Schubs - schulbezogene Sozialarbeit an Grundschulen“ der Stadt Kassel, das Projekt. Aus Mitteln des Teilhabepakets des Bundesministeriums für Arbeit wurden Schulsozialarbeiter/-innen gefördert, die den Prozess der Einführung von Ganztagsangeboten an den Grundschulen unterstützen. Wie die Schubs-Kräfte genau eingesetzt wurden, regelte jede Schule individuell. Die Schulsozialarbeiter/-innen begleiteten und strukturierten die Zusammenarbeit von Lehrkräften und Horterzieherinnen. „Wichtig ist dabei die Wertschätzung der anderen Profession“, sagte Christa Ment. Notwendig seien klare und verbindliche Besprechungszeiten zwischen Hort und Schule sowie Vertrauen als Basis der Zusammenarbeit.

Zusammenarbeit in der Bildungslandschaft

Um Zusammenarbeit auf der kommunalen Ebene ging es am Nachmittag im zweiten Forum. Frank Grasmeier und Bettina Pauli stellten „Ganztägiges Lernen in der Bildungslandschaft Baunatal“ vor. Neben den Schulen sind unter anderem Vereine, kommunale Kinder- und Jugendarbeit, Volkshochschule, Kitas und Horte sowie AWO und Senioren-Servicezentrum in der Bildungslandschaft eingebunden. Sie diskutieren in Arbeitsgruppen, eine Steuerungsgruppe bündelt die Aktivitäten. Ein Anliegen war das Thema „Ganztag an Schulen“. Zu diesem Thema hat die Stadt eine Bedarfserhebung erstellt. Auch hier boten die Moderatoren neben einem informativen Vortrag mit Moderationswänden kleine Foren zur Diskussion von spezifischen Fragestellungen.

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So saßen Teilnehmende in Grüppchen zusammen und tauschten sich angeregt unter anderem aus, wie sich Kommunikation und Kooperation ohne zeitlichen Mehraufwand gestalten lässt. Durch Kooperation muss ein Mehrwert entstehen. Doch was tun, wenn zum Beispiel in einem Flächenkreis die politische Bereitschaft nicht vorhanden ist?

Neben Informationen war der Austausch ein wichtiger Teil der Tagung. Nicht nur in den Foren, auch in den Pausen gab es angeregte Unterhaltungen. In den Workshops wurden etliche Fragen gestellt und ganz praktische Hinweise gegeben. „Warum ist die Lernzeit bei Ihnen für alle Kinder gleich“, wurde Barbara Jühe, Schulleiterin der Integrierten Gesamtschule Kelsterbach, im Workshop „Individuelle Lernzeiten statt Hausaufgaben“ gefragt. Aus Gründen der Rhythmisierung, damit jeder weiß, was kommt. Die Kelsterbacher Schule hat die Hausaufgaben mit den Lernzeiten bereits in die Schule geholt, auch um die Chancengerechtigkeit für die Kinder zu erhöhen. Die Schüler/-innen sollen so auch das selbstständige Arbeiten lernen, wobei in der Lernzeit eine Lehrkraft als Hilfe zur Verfügung steht.

Architektur und Teamstrukturen

Mit dem Aspekt des Raumes befasste sich Professorin Andrea Richter von der Universität Augsburg im Workshop „Lern(t)räume – Lernräume positiv gestalten“. Architektur, erläuterte sie, organisiert den gesellschaftlichen Raum und schafft „Ermöglichungsräume“ für das pädagogische Konzept. Für Ganztagschule und die damit verbundenen Konzepte brauche man Raum. Der Pädagoge Appel spricht von mindestens acht Zusatzräumen. Wie gestalte ich Räume demokratisch? Welche Rolle spielen Form und Farbe? Doch was kann man tun, wenn die Schule nun mal alt ist und die Räume nicht den neuen pädagogischen Anforderungen genügen? Auch dafür gibt es Lösungen mit transparenten Wänden, verschiebbaren Tafeln oder Tischen, die unterschiedlich kombiniert werden können und Möglichkeiten schaffen, Klassenräume multifunktional zu gestalten.

Die Offene Schule Waldau in Kassel versteht sich als Teamschule, entsprechend angepasst ist dort die Architektur. Mit dem Thema „Teamstrukturen“ befasste sich die Pädagogische Leiterin der Schule, Martina Moritz, in ihrem Workshop. An der Waldauer Schule begleiten 13 Kollegen/-innen einen Jahrgang über sechs Jahre. Neben dem Klassenlehrer gibt es einen Co-Klassenlehrer. Diese Struktur erfordert hohe Eigenständigkeit und Verantwortung sowie enge Absprachen. Team „heißt auch, Zugeständnisse zu machen“, sagte die Referentin. Die Teams haben eigene Räume, es finden regelmäßige Teamsitzungen statt, die Teamsprecher treffen sich 14-tägig mit der Schulleitung. Wichtig und gut sei der Austausch darüber, wie man Schüler/-innen am besten unterstützen könne.

„Die Anregung mit den zwei Klassenlehrern finde ich gut“, stellte ein Teilnehmer am Ende der Tagung fest. So wie er, nahmen viele an diesem sonnigen Donnerstag manche Anregung mit an ihre Schule. Wer wollte, konnte am nächsten Tag noch an einigen Kasseler Schulen hospitieren und die Eindrücke vertiefen.

Autorin: Jacqueline Engelke, vitamin be Kommunikation, Kassel
Fotos: Fabian Wanisch, Serviceagentur "Ganztägig lernen" Hessen
Datum: 29.09.2014
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