
"Interkulturelle Kompetenz ist die Fähigkeit, mit Angehörigen anderer Kulturen so zu interagieren, dass beide Seiten zufrieden sind - dies geschieht kultursensibel, empathisch und wirkungsvoll."
Gülbahar Erdem M.A. phil. ist Fortbildnerin, Islamwissenschaftlerin und Theologin mit jahrelanger Erfahrung in der Arbeit zu interkultureller Kompetenz und interreligiösem Dialog. Als Expertin für kultursensible Kommunikation und Integration im Bildungswesen bietet sie Workshops und Schulungen an, die Lehrkräfte und pädagogisches Personal dabei unterstützen, die Herausforderungen der kulturellen Vielfalt im schulischen Alltag wertschätzend und kompetent zu bewältigen.
Mit einem tiefen Verständnis für Migrationsgeschichte und die religiöse sowie kulturelle Prägung unterschiedlicher Lebenswelten setzt sie Impulse für ein interkulturelles Miteinander auf Augenhöhe. Ihre Arbeit zielt darauf ab, durch praxisnahe Methoden und reflektierte Kommunikation eine Kultur des Respekts und der Offenheit zu fördern. Im Rahmen dieses Interviews gibt Frau Erdem Einblicke in ihre Ansätze und die Herausforderungen, die Akteure im schulischen Ganztag beim Aufbau interkultureller Kompetenz erleben.
- Wie definierst du „Interkulturelle Kompetenz“ in der Arbeit mit Schulpersonal im Ganztagsbereich und wie vermittelst du diesen Begriff in deinen Trainingseinheiten?
Interkulturelle Kompetenz ist ein interdisziplinäres Konzept, das im Umgang mit Pluralität und Diversität in verschiedenen professionellen Handlungsfeldern Beachtung findet. Eine Definition, die ich gern verwende ist bezogen auf die Haltung, die ich dem Schulpersonal vermitteln möchte: Interkulturelle Kompetenz, als die Fähigkeit, mit Angehörigen anderer Kulturen so zu interagieren, dass beide Seiten zufrieden sind – dies geschieht kultursensibel, empathisch und wirkungsvoll. Es umfasst die Fähigkeit angemessen und professionell in Situationen zu reagieren, in denen ich Menschen anderer kultureller Prägung begegne, sich also mein „Eigenes“ mit dem „Anderen“ überschneidet. Differente Verhaltensweisen oder Kommunikationsformen können hier die Interaktion erschweren oder Konflikte hervorrufen, aber andererseits liegt hier auch ein sehr bereicherndes Lernfeld und viel kreatives Potenzial. Dies für den Ganztagsbereich verfügbar zu machen bedeutet, sich zunächst reflexiv und bewusst diesen Situationen zu stellen und die Vielfalt der Lebenswelt von Schülerinnen und Schüler wahrzunehmen, aber auch die eigene „kulturelle Brille“, durch die wir alle sehen, kritisch zu betrachten. Die unterschiedlichen kulturellen Perspektiven von Schülerinnen und Schülern, Eltern sowie des Kollegiums sind als Ressource zu begreifen, wertzuschätzen und für den Schullalltag zu nutzen ist für eine positive Lernatmosphäre im Ganztag unerlässlich. In meinen Trainingseinheiten vermittele ich diesen Begriff durch interaktive Übungen, Reflexionen persönlicher Erfahrungen und konkreten Beispielen aus dem Schulalltag. Ziel ist es, ein Bewusstsein für unbewusste Denkweisen und Vorurteile zu schaffen und Anregungen für Handlungsweisen oder Kommunikation zu geben, die zu einem besseren Miteinander im Ganztag führen soll. In diesem Sinn möchte ich die Interkulturelle Kompetenz als hilfreiches Tool und Modell verstanden wissen.
- Welche konkreten Schwerpunkte setzt du in deinem Training, um Lehrkräfte und weiteres Schulpersonal für die Herausforderungen in der Ganztagsschule zu sensibilisieren?
Ich lege den Fokus auf praxisnahe Themen wie kulturell bedingte Kommunikationsstile, Konfliktlösungsstrategien und die Förderung eines inklusiven Schulklimas. Besonderes Augenmerk gilt auch der Sensibilisierung für kulturelle Unterschiede in Erziehungsstilen, Erwartungen an Bildung sowie nonverbale Kommunikation. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Reflexion eigener kultureller Prägungen und deren Einfluss auf den pädagogischen Alltag.
- Du arbeitest häufig mit Fallbeispielen aus dem Schulalltag. Welche Situationen stellen das Personal am häufigsten vor interkulturelle Herausforderungen und wie unterstützt du sie darin, einfühlsame Lösungen zu finden?
Häufige Herausforderungen sind Missverständnisse durch unterschiedliche Kommunikationsstile, Elternarbeit mit Familien, die aus ihren Herkunftsländern vielleicht andere Bildungskonzepte gewohnt sind, sowie Konflikte zwischen Schülerinnen und Schüler verschiedener kultureller Hintergründe. Ich arbeite mit dem Personal an der Analyse solcher Situationen, ermutige sie zu einem Perspektivwechsel, gebe Hintergrundwissen und frage auch nach Gefühlen, Gedanken und inneren Konflikten, die aufkommen können. Es gibt keine allgemeingültige Lösung oder Checklisten womit man diese Situationen einheitlich klären könnte, denn jede Konstellation ist individuell. Jedoch zeige Wege auf, wie sie offene Gespräche fördern und gemeinsame Lösungen entwickeln können. Methoden wie Rollenspiele oder Perspektivwechselübungen sind dabei besonders hilfreich. Insbesondere ermutige ich dazu nachzufragen und neugierig auf das „Neue“ zu sein, das sich ihnen bietet. Aber auch zu differenzieren, denn nicht jeder Konflikt ist kulturbedingt. Alle Kinder und Jugendlichen haben ihre ganz natürlichen und individuellen Entwicklungsphasen, Schwierigkeiten und Konflikte, wie sie natürlich auch Talente und ihre eigenen Persönlichkeiten haben. Nur zu „kulturalisieren“ und Begründungen lediglich hier zu suchen wird den jungen Menschen nicht gerecht. Auch ist es wichtig die eigenen Grundannahmen über das Gegenüber immer wieder zu hinterfragen. Ein häufiges Missverständnis ist, dass alle aus einer Kultur dieselben Werte teilen. Reflexion und Wissenstraining helfen, Stereotype aufzubrechen.
- Welche Rückmeldungen erhältst du von Teilnehmenden deiner Training? Gibt es Veränderungen in ihrem Verhalten oder Bewusstsein, die dir besonders aufgefallen sind?
Teilnehmende berichten häufig, dass sie nach den Trainings bewusster in Situationen gehen und offener für Dialoge sind. Sie fühlen sich sicherer im Umgang mit Vielfalt und geben an, Konflikte konstruktiver angehen zu können. Auch im Schulalltag werden kreative neue Wege entwickelt und z.B. die Impulse in die Elternarbeit eingebracht. Besonders positiv ist, dass viele erkennen, wie wertvoll interkulturelle Kompetenz auch für die eigene persönliche Weiterentwicklung ist und die Flexibilität im Denken und Handeln auch entlastend ist. Besonders wertvoll ist für mich, dass viele ihre eigenen Vorurteile erkennen und sich bewusst werden, dass ihr Verhalten auch Teil des Konflikts ist.
- Welche Herausforderungen begegnen Lehrkräften und Betreuern besonders häufig, wenn sie die interkulturelle Kompetenz in ihre tägliche Arbeit integrieren möchten und wie hilfst du ihnen, diese zu meistern?
Ein großes Hindernis ist oft Zeitmangel, da Reflexion und Anpassung des eigenen Verhaltens zusätzliche Ressourcen erfordern. Auch Unsicherheiten im Umgang mit kulturellen Tabus, aber auch die Frage welche Grenzen zu setzen sind oder Irritationen aufgrund von Verhaltensweisen sind häufig. Ich helfe, indem ich praxisnahe Strategien anbiete, die leicht in den Alltag integrierbar sind und ein sicheres Umfeld schaffen, in dem auch „Fehler“ als Lernmöglichkeiten gesehen werden. Eine gute Fehlerkultur und ein offenes Sprechen über die Gedanken und Gefühle, die in verschiedenen Situationen hochkommen ist hilfreich.
- Inwiefern siehst du kulturelle und religiöse Bedürfnisse, wie etwa Speisepläne und Feiertage, als zentral für eine integrative und inklusive Schule? Wie wird dieser Aspekt in deinen Trainings adressiert und welche Impulse gibst du zur praktischen Umsetzung?
Diese Aspekte sind essenziell, da sie zeigen, wie eine Schule Respekt und Wertschätzung für die Identität aller Mitglieder der Schulgemeinschaft lebt. In meinen Trainings beleuchten wir konkrete Beispiele, wie solche Bedürfnisse erkannt und berücksichtigt werden können, etwa durch diversere Speisepläne oder die Einbeziehung nicht-christlicher Feiertage in die Schulgestaltung. Ich ermutige Schulen, gemeinsam mit Schülern und Eltern Lösungen zu erarbeiten, die Praktikabilität und Inklusivität vereinen. Gerade in der Elternarbeit können ganz viele Barrieren abgebaut und Vertrauen geschaffen werden. Kleine Impulse wie das Basteln von Festtagskarten z.B. zu Ramadan können Ausdruck von Normalität sein.
- Welche proaktiven Strategien empfiehlst du, um Diskriminierung und interkulturelle Konflikte im Schulalltag frühzeitig zu erkennen und zu verhindern?
Wichtige Strategien sind die Etablierung klarer Werte wie Respekt und Offenheit, die Schulung in gewaltfreier Kommunikation und das Fördern von Dialog. Präventiv helfen Maßnahmen wie interkulturelle Projektwochen, ein Beschwerdemanagementsystem und eine enge Zusammenarbeit mit Eltern. Außerdem rate ich Schulen, ein Netzwerk aus externen Fachkräften aufzubauen, um bei Bedarf Unterstützung zu erhalten.
- Gibt es ein Beispiel aus deiner Arbeit, das für dich die Bedeutung von Interkultureller Kompetenz besonders deutlich gemacht hat? Was hat dieser Fall dich gelehrt?
Ein eindrückliches Beispiel war ein Konflikt zwischen Schülergruppen, die sich aufgrund religiöser Missverständnisse ausgegrenzt fühlten. Durch moderierte Gespräche, in denen Ängste und Perspektiven offen geteilt wurden, entstand ein tieferes Verständnis füreinander. Dieser Fall hat mir gezeigt, wie kraftvoll gezielte Kommunikation ist und wie wichtig es ist, frühzeitig Räume für solche Gespräche zu schaffen.
- Was sind deine langfristigen Ziele im Bereich der Förderung interkultureller Kompetenzen im Bildungswesen und wie könnte eine Schule von morgen aussehen, die interkulturelle Vielfalt als absolute Bereicherung ansieht?
Mein Ziel ist es, interkulturelle Kompetenz als festen Bestandteil der Lehrerbildung zu etablieren und Schulen zu inspirieren, Diversität nicht nur als Herausforderung, sondern als Ressource zu betrachten. Die Schule von morgen ist ein Ort, an dem Vielfalt im Lehrplan, in den Strukturen und im Alltag sichtbar ist – sei es durch Mehrsprachigkeit, kulturell diverse Materialien oder ein wertschätzendes Schulklima, das alle mitgestalten können.
Vielen Dank, Frau Erdem, für das inspirierende Gespräch und Ihre wertvollen Einblicke!
- Pädagogischer Tag mit Frau Erdem sowie weiterführende Empfehlungen
Interessierte sind herzlich eingeladen, sich für einen Pädagogischen Tag mit Frau Erdem anzumelden. Das Angebot ist kostenfrei, die Serviceagentur finanziert die Referentin. Nutzen Sie hierfür folgenden Link:
Weitere Empfehlungen:
Auf Spurensuche- Eine Reise durch die Interkulturalität des Ganztags
Fachinformation. Fokus: Interkulturalität
Begleitende Informationen, Anregungen für die Integration im Schulalltag und leckere Rezepte (externer Link zur VNS)
Bei Fragen: E-Mail | 069-4500488-883