Ein Bericht von Birgitta M. Schulte
Ömürsan interviewt Manuel: „Sag mir ein Subjekt!“ Hassan ist schnell zufrieden und Fabian fordert: „Ein Wort aus dem Wortfeld sagen!“ Das geht lang so hin und her. Die beiden Fünftklässer in der Hessenwaldschule in Weiterstadt ziehen Kärtchen, die ihnen Fragen vorschlagen.
Leon und Christoph würfeln. Sie dürfen auf dem Tischspiel vorrücken, wenn sie eine „Wortaufgabe“ gelöst haben. Die meisten Mädchen sitzen in Einzelarbeit über der Lernkartei Grammatik. Angestrengtes Nachdenken. Und schließlich die Lösung, die erlaubt, eine neue Karteikarte zu holen. Jessica schaut auf ihren „Lernplan“. Nach der 4 ist die 5 dran, die Nummer aus dem Plan findet sich oben auf der Karteikarte wieder.
Ömürsan und Manuel ziehen noch immer Kärtchen. Dann aber möchte Ömürsan ein Wort, das sich auf „Orange“ reimt. Er guckt verschmitzt, ja siegessicher. Er hat eines im Kopf, aber das wird dem Manuel bestimmt nicht einfallen. Was reimt sich auf „Orange“? Nichts, oder? „Melange!“ „Weißt Du denn, was das heißt?“ fragt Lehrerin Anja Reuter und nickt hinüber zum langen Regal mit den Lernmaterialien. Und bald lernt Ömürsan nicht nur den Wiener Milchkaffee kennen, sondern auch, dass Wörterbücher unterschiedlich aufgebaut sind.
Die Lehrerin war nur mit einem Ohr bei den Kärtchenziehern, sie beantwortete Fragen, half hier und da. Jetzt fordert sie die Aufmerksamkeit von allen ein. Die Kinder drehen sich um. Nun haben sie ihre Schreibtische im Rücken und bilden einen Stuhlkreis. Anja Reuter schreibt an die Tafel, fragt, entwickelt. Das ist nicht Frontalunterricht, sondern eher ein Grammatik-Input, der das selbstständige Lernen unterstützt.
In der Parallelklasse werden auch Kärtchen gezogen. Hier findet das grammatische Interview vorn an der Tafel beispielhaft statt. Anschließend arbeiten alle einzeln weiter. Lehrerin und Referendarin gehen durch Tischreihen, helfen, stützen. Dies ist nicht die Gymnasialklasse, hier sitzen „HauptschülerInnen“ und „RealschülerInnen“ zusammen. In der nächsten „verbundenen“ Haupt- und Realschulklasse nebenan gibt es nur Gruppentische. Die Sitzordnungen sind überall anders, aber alle lernen nach dem „Neuen Lernkonzept“.
Darauf hat sich das Kollegium der Hessenwaldschule, der schulformbezogenen Gesamtschule des Landkreises Darmstadt-Dieburg, 2006 geeinigt. Drei Klassenlehrerinnen wollten nach der Förderstufe ihre Gruppen, die so gut zusammengewachsen waren, nicht mehr trennen. Sie wollten aber auch nicht mehr erleben, dass SchülerInnen nach neun Jahren Unterricht noch immer nicht addieren und subtrahieren können. Und die Hälfte des Kollegiums wollte nicht mehr in die Gesichter enttäuschter Hauptschüler schauen, die nicht einmal Lust haben, ihr Federmäppchen zu öffnen. „Deshalb haben sich die Lehrer und Lehrerinnen vom Belehren ab- und dem Lernen zugewandt“, sagt Benno Moosmüller, der stellvertretende Schulleiter. „Die Lehrenden verstehen sich nicht mehr als ‚Vorbeter’, sondern als ‚Lerncoach’.“
Die Kinder sind die „Lernakteure in eigener Sache“. Sie tragen die Verantwortung dafür, ob sie Fortschritte machen oder nicht.
Ob sie Lust dazu haben, hängt davon ab, dass sie spüren, etwas Wichtiges zu tun, etwas von „Relevanz“. Und dass sie merken, selbst ein aktiver, gestaltender Teil zu sein. „Selbstwirksamkeit“ heißt das Stichwort. „Die spüren sie in vielen Bereichen.“, meint der stellvertretende Schulleiter Benno Moosmüller, „im Unterricht waren sie bisher meist in der Konsumentenrolle. Gerade da fangen wir an mit dem Neuen Lernkonzept.“
Die Schüler und Schülerinnen planen ihren Lernprozess selbst und reflektieren ihn auch. „So ergibt sich eine Disziplin, die von innen kommt,“ sagt Benno Moosmüller. In einem wöchentlich auszufüllenden Formular, dem „Lernplan“, halten die Lernenden ihre Ziele, Erfolge und Fehlschläge fest. An jedem Wochenende unterschreiben ihn die Eltern, lesen da auch, was Lehrkräfte oder Schulsozialarbeiter ihnen noch mitteilen möchten – „Transparenz“ lautet das Stichwort.
Als weiteres Stichwort ist „Partizipation“ wichtig. „Aus Sicht der Schüler ist die Schule ein Ort des Grauens.“, meint Schulleiterin Ute Simon-Nadler. „Wir stellen uns vor, dass sie Teil der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen ist.“ Dazu gehört, dass die Schüler und Schülerinnen, wenn sie ihren sozialen Diensten nachkommen, die Schule formen, wie sie es für richtig halten. Die SchülerInnen-Vertretung verkauft die am Valentinstag zu verschenkenden Rosen, veranstaltet eine Riesenparty oder mischt sich auch schon mal politisch ein. „Das muss ich zulassen.“, findet Ute Simon-Nadler, „auch wenn man mal drüber schmunzeln muss, welche Blüten das treibt.“
„Die Chefin nimmt uns wahr, man hat keine Wand vor sich.“, erklärt Hafeez Majoka, der Schülervertreter. „Wir haben eine starke Schulleitung, wenn die schwach wäre, liefe nichts.“
„Die Jugendlichen haben eine Idee – wir sagen: Macht es!“, bekennt Ute Simon-Nadler. „Sie lernen: die Schule ist ja schon Leben.“ Nicht: „Non scolae, sed vitae discimus.“
Phasen, in denen Schüler und Schülerinnen gemeinsam eine Idee verfolgen, etwa einen bestimmten Tanz zu trainieren, sollen jetzt fest eingeplant werden. „Freestyle“ wird das heißen in der Hessenwaldschule. Es soll ein Element neben Elementen wie Werkstattunterricht (Computerlehrgänge, Sport, Musik) und Projektunterricht sein. Die Hessenwaldschule strebt einen Wechsel verschiedener Lernformen an, einen Wochen- und einen Jahresrhythmus, daran arbeitet zur Zeit intensiv eine Arbeitsgruppe.
„Nur dann geht das Neue Lernkonzept auf, wenn es einen sinnvollen Wechsel von Lernen, Üben, Kreativität und Bewegen gibt.“, sagt Benno Moosmüller, „von Spannung und Entspannung.“ Sich auf dem Schulgelände aufzuhalten, soll eine Selbstverständlichkeit werden, für Kinder und Erwachsene.
Das stößt nicht bei allen auf Begeisterung. „Die 7. und 8. Klassen würden ihre Freizeit lieber woanders verbringen.“, sagt Hafeez Majoka. „Die wollen Kontakte machen, ihre Peer Group erweitern.“ Die Neunten und Zehnten sind über das hinaus, und die Fünften haben auch nichts dagegen, dass sie schon jetzt an einem Tag in der Woche bis 16.00 Uhr Unterricht haben. „Manchmal wird man müde, manchmal macht es Spaß.“, sagt Jessica. Es komme halt drauf an.
Viele Eltern haben Vorbehalte, der Nachmittag ist doch Familienzeit – oder Zeit für den Reitunterricht und das Ballett-Training. Benno Moosmüller macht eine soziale Spaltung aus. „Ganztagsschule ist nur etwas für die Bedürftigen aus der Sicht vieler Eltern.“
„Eltern brauchen Verlässlichkeit.“, sagt Elternvertreterin Mechthild Rexroth. „Oft müssen beide Teile arbeiten, sie wollen, dass die Schule bis 16.00 Uhr geöffnet hat, damit es keine Schlüsselkinder gibt.“
Die Hessenwaldschule ist bereits als familienfreundliche Schule im Landkreis Darmstadt-Dieburg zertifiziert. An vier Tagen in der Woche werden frei zu wählende Angebote gemacht und Schüler betreuen Hausaufgaben. Aber auch wichtige Elemente des Neuen Lernkonzepts liegen am Nachmittag, zum Beispiel das neue Fach „Individuelles Lernen“. Hier setzen die Schüler und Schülerinnen in Hauptfächern ihre eigenen Schwerpunkte, machen das für sie Wichtige, eben etwas von „Relevanz“. Als Lern-BeraterInnen stehen Fachlehrkräfte bereit.
Parallel zu den Neigungskursen wird „Betreutes Lernen“ angeboten. Sozialpädagogen betreuen Kinder aus den V-Klassen mit Lernproblemen. Sie helfen, wenn es im Elternhaus Schwierigkeiten gibt, und bauen die Lern-Motivation wieder auf. Hier müssen auch die trainieren, die im „Basis-Test“ das Grundwissen nicht nachweisen können.
„Das Neue Lernkonzept und der Ganztagsbetrieb gehören zusammen.“, sagt Heidi Fuchs, “denn das Neue Lernkonzept braucht Zeit. Die Schüler und Schülerinnen brauchen die Zeit; je schwerer ihnen das Lernen fällt, desto mehr.“ Heidi Fuchs ist Förderschullehrerin. Sie ist in den verbundenen siebten Klassen als zweite Lehrkraft mit im Unterricht. „Wenn Lernschwache selbstständig lernen sollen, dann brauchen sie Hilfe. Da ist die Lehrkraft sehr gefordert.“ Solche Kinder brauchen Bestätigung, sie brauchen sie unmittelbar. Lernschwache und Unruhige brauchen Anreize, Aufforderungen, und sie brauchen emotionale Unterstützung.
Wenn 25 oder gar 30 Jugendliche in unterschiedlichem Tempo an unterschiedlichen Aufgaben arbeiten, ist das eine Herausforderung für ihre Lehrer. Nicht alle kommen damit zurecht. Andere suchen sie. Sie suchen wie die Klassenlehrerin der 5. Gymnasialklasse Anja Reuter den Gestaltungsspielraum. Die Hessenwaldschule hat schon zehn neue Lehrkräfte gewonnen, seitdem das Neue Lernkonzept bekannt wurde. Und zunehmend entscheiden sich Eltern aus diesem Grund für die Schule im Wald. „Ganz bewusst“, sagt Mechthild Rexroth, die es als ihre Vertreterin wissen muss.
Autorin: Birgitta M. Schule
Fotos: Simone Bruch, Sieglinde Rösner, Roland Lörzer
Datum: 07.05.2009
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