Man muss viel miteinander reden

Ein Bericht von Jacqueline Engelke

Das Gebäude der Friedrich-Wöhler-Schule in Kassel erinnert eher an ein herrschaftliches Schloss als an eine Schule. Leicht könnte man sich verirren in den vielen Gängen, würde nicht ein freundliches Schild gleich unten an der Treppe mit dem schmiedeeisernen blauen Geländer den Weg weisen. Hektik scheint hier keinen Platz zu haben, die Atmosphäre wirkt ruhig und offen. Noch ist dies eine verbundene Grund-, Haupt- und Realschule. Doch aufgrund sinkender Schülerzahlen entwickelt sich die Friedrich-Wöhler-Schule zu einer reinen Grundschule als Ganztagsstandort und dies in enger Kooperation mit dem Kinderhaus Landaustraße. Der Hort ist in der Schule untergebracht, Erzieherinnen und Lehrkräfte arbeiten eng zusammen. Rhythmisierung, individuelle Förderung, ein flexibler Schulanfang mit jahrgangsgemischten Klassen sind wichtige Teile des Konzepts, ebenso wie Partizipation und offene Arbeit. Den Kindern wird ein hohes Maß an Selbstständigkeit zugetraut.


Spielplatz

Der Klassenraum der „Zwerge“ - die Lerngruppen haben hier Namen wie Zwerge, Phönixe oder Pinguine - ist bunt und heimelig. Die Lernwörter „Gebäude, Stadt, Wappen, documenta“ hängen an einer Wand. In einer kuscheligen Ecke sitzt Vera Knippschild mit den Kindern der Klassen 3 und 4, die jahrgangsübergreifend unterrichtet werden. Als die individuelle Lernzeit beginnt – intern „Indizeit“ genannt - setzen sich die Kinder in kleinen Gruppen oder alleine an verschiedene Tische. Sie holen ihre Arbeitspläne hervor und beginnen, selbstständig und konzentriert die eingetragenen Aufgaben zu lösen. Die einen befassen sich mit Worten, die anderen mit Zahlen. „Soll ich dir helfen“, fragt ein Junge leise einen anderen. Ab und zu steht ein Kind auf, nimmt eine Klammer mit seinem Namen und steckt sie an ein kleines Bord. Mit dieser Klammer fordert das Kind die Hilfe der Lehrerin an. Die Tür öffnet sich, Anke Neuvians kommt herein. Die Horterzieherin bespricht sich kurz mit Vera  Kippschild und kümmert sich danach intensiv um einige der Schüler und Schülerinnen.

Mut zu kreativen Lösungen

Lehrkraft und Bezugserzieherin bilden die „Miniteams“ der Grundschule. In der „Indizeit“, die die klassischen Hausaufgaben größtenteils ersetzt, arbeiten sie gemeinsam mit den Kindern. Diese gemeinsame Arbeit sowie der Austausch untereinander sind „sehr hilfreich, auch bei Elterngesprächen“, sind sich die stellvertretende Schulleiterin Daniela Schinke und Annette Rosenbaum, Leiterin des städtischen Kinderhauses Landaustraße, einig. Bewusst nennt man sich nicht Schule, sondern „Ganztagsstandort in Kooperation mit dem Kinderhaus Landaustraße“, erläutert Daniela Schinke. Die Zusammenarbeit zwischen Grundschule und Hort konnte nach und nach wachsen. Was dafür notwendig war? „Der Wille, eine Vision, der Mut zu kreativen Lösungen und gegenseitige Wertschätzung. Außerdem muss die Chemie stimmen“, fassen die beiden Frauen zusammen.

Zu einem Standort mit diesem veränderten Angebot zu werden bedeutete einen langen, manchmal auch steinigen Weg. Noch immer wird viel diskutiert und besprochen. Überhaupt fällt sehr häufig der Satz: „Man muss miteinander reden.“ Visionen brauchen Ideen zur Umsetzung und auch zur Finanzierung. Die Batterie in meinem Taschenrechner war irgendwann leer“, erzählt Daniela Schinke. Rückläufige Schülerzahlen in der Sekundarstufe zwangen die Schule zum Handeln. Der Plan, zu einer Integrierten Gesamtschule zu werden, scheiterte an geänderten gesetzlichen Vorgaben. So konzentrierte man sich auf den Ganztagsstandort mit einem veränderten Konzept in der Grundschule.

145 Kinder werden hier unterrichtet, die Klassen 1 und 2 (Stufe I) und die Klassen 3 und 4 (Stufe II) jahrgangsgemischt gemeinsam. 92 Prozent der Schüler und Schülerinnen bleiben ganztags. Die pädagogische Mittagsbetreuung und der Hort arbeiten in der Kernzeit bis 15.00 Uhr zusammen. Der Hort bietet für drei Hort II-Gruppen Betreuung bis 17.00 Uhr an. Dienstags sind alle Kinder für Projektunterricht bis nachmittags an der Schule. Die Struktur ist jeden Tag für alle Kinder gleich. „Das schafft Ruhe“, sagt Daniela Schinke. Und Verlässlichkeit für alle Beteiligten. Es führt allerdings auch dazu, dass 80 Kinder gemeinsam zum Mittagessen strömen. Ein Andrang, der sich nur mit klaren Regeln bewältigen lässt.

Selbstständigkeit wird groß geschrieben

Eine Pause zwischen dem Essen und dem Nachmittagsangebot ist für die Kinder wichtig. Sie brauchen Freiraum und Zeit zum Spielen. Welche offenen Angebote sie nutzen wollen, entscheiden die Kinder selbst. Selbstständigkeit und Vertrauen in die Kinder werden an der Friedrich-Wöhler-Schule groß geschrieben. Damit das alles funktioniert, sind Organisation und Kommunikation notwendig. Woher wissen die Erwachsenen beispielsweise, wo die Kinder am Nachmittag gerade sind?

Wie das funktioniert, demonstriert Lotta von den „Zwergen“. Als Kinderscout führt sie die Besucherin sicher durch die vielen Gänge in die so genannte Anmeldung. An einer großen, gelben Tafel stehen die verschiedenen Angebote sowie die unterschiedlichen Uhrzeiten in senkrechten bzw. waagerechten Spalten. Jedes Kind hat einen eigenen Magneten. „Das Kind klebt sich dahin, wo es hin will“, erläutert Lotta. „Da muss aber auch ein Erwachsener hängen, sonst geht es nicht“, erklärt sie weiter. Wichtig ist natürlich auch, sich am Ende wieder auszuchecken und seinen Magneten wegzunehmen.

Anmeldung

Lotta zeigt auf dem Rundgang den Bauraum, in dem zum Beispiel Legosteine zur Verfügung stehen. „Was bei uns nicht so klappt, das Aufräumen“, stellt sie besorgt fest. In der Bücherei herrscht erstaunliche Ruhe, die Kinder sitzen und lesen, schauen nur kurz neugierig auf. Natürlich sind Pippi Langstrumpf und Harry Potter auf seinem Quidditch-Besen hier vertreten. Im Kreativraum sitzen Kinder und basteln. Der Spieleraum sieht noch etwas chaotisch aus, „der ist noch nicht fertig gestaltet“, erläutert Lotta. Manchmal sind die Spiele durcheinander, weil die Kinder sie nicht wieder richtig einräumen. Solche Punkte „haben wir schon in der Kinderkonferenz besprochen“, sagt Lotta. Besserung beim Weg- und Aufräumen ist also in Sicht.

Unterrichtsstunden auf 40 Minuten verkürzt

Kinderkonferenz und Klassenrat finden regelmäßig statt. Überhaupt werden feste Zeiten für den Austausch untereinander groß geschrieben. Feste Kooperationszeiten gehören zum Alltag. Denn Konzeptentwicklung benötigt Zeit. Zeit für Grundschulkonferenzen, Besprechungen der Miniteams, Teamsitzungen oder Treffen der Steuerungsgruppe.
Um Zeit zu gewinnen und das Gesamtkonzept umzusetzen, wurden die Unterrichtsstunden von 45 auf 40 Minuten verkürzt. Der Unterricht findet in Blöcken von 80 Minuten statt. Eine der kreativen Lösungen, die man sich an der Schule einfallen ließ. Einmal im Jahr findet eine Pädagogische Tagung des Kollegiums von Hort und Schule statt.

Die Zusammenarbeit zwischen Erzieherinnen und Lehrkräften hat Geschichte. Das Kinderhaus Landaustraße, eine städtische Einrichtung, lag in kurzer Entfernung zur Friedrich-Wöhler-Schule, schon immer existierten Berührungspunkte. Als sich im Kindergarten der Bedarf nach einer Hortgruppe herauskristallisierte, kam diese im Jahr 2000 zustande. Weil der Platz im Kinderhaus begrenzt war und der Bedarf wuchs, wagte man 2008 das erste Abenteuer: Zwei Hortgruppen arbeiteten in den Räumen der Schule. Anlässlich einer Fortbildung zum neuen Bildungs- und Erziehungsplan verständigten sich Erzieherinnen und Lehrkräfte über ihre pädagogischen Ansichten. „Wir konnten kontinuierlich zusammenwachsen“, erklärt Daniela Schinke und Annette Rosenbaum nickt. Die Stadt unterstützte den Prozess und regte Entwicklungen sogar an. So zum Beispiel die pädagogische Mittagsbetreuung, die die Schule 2008/2009 einführte. 2010 kam der Flexible Schulanfang dazu, 2011 die Konzeption Ganztagsstandort und die jahrgangsgemischten Gruppen.

Ressourcen werden sinnvoller genutzt

Mittlerweile ist der Hort ganz in die Schule gezogen. „Wir haben hier ja fast ein Schloss“, sagt Daniela Schinke lächelnd. „Wir haben ganz viel von Euch gelernt“, ergänzt sie mit Blick auf Annette Rosenbaum, der Leiterin des Kinderhauses Landaustraße und nennt als Beispiele die Partizipation und die offene Arbeit. Schule und Hort entwickelten ein gemeinsames Verständnis vom Kind, ein gemeinsames pädagogisches Konzept, das als Basis der Arbeit dient. Die Veränderungen fielen nicht allen leicht. „Man muss es wollen“, sagt Daniela Schinke. „Es gab Kolleginnen, denen die Veränderungen schwer fielen und es gab auch Wechsel“, fügt sie hinzu. Auch die Erzieherinnen aus dem Hort brauchten Zeit, um die gemeinsamen Teams mit den Lehrkräften zu akzeptieren. „Anfangs gab es auch Ängste“, ergänzt Annette Rosenbaum. Nach und nach merkten alle: Wir profitieren davon. Ressourcen werden sinnvoller genutzt, zum Beispiel die Zeit, in denen Erzieherinnen im Hort sonst mit den Kindern Hausaufgaben machten.

Eine gemeinsame Vision zur Arbeit mit den Kindern, der Mut zu kreativen Lösungen wie der verkürzten Unterrichtszeit und gegenseitige Werstschätzung führten zu einer entspannten und lockeren Atmosphäre. Offene Arbeit bedeutet, „man muss sich engagieren“, sagt Annette Rosenbaum. Wenn Schule als Lern- und Lebensort für alle verstanden wird, in dem die Kinder individuell entsprechend ihren Fähigkeiten gefördert werden, muss viel strukturiert und geplant werden. Immer wieder gilt es, sich darüber zu verständigen, was die Kinder und was die Erwachsenen brauchen.

Zum Beispiel ist es notwendig, die Tagespläne und die Arbeitspläne zu besprechen. Die Aufgaben und Ziele in den Arbeitsplänen der Kinder werden den individuellen Fähigkeiten gemäß gestaltet. „Mein Ziel in dieser Woche“ steht ganz oben, es folgen Kästchen für die Aufgaben in den Fächern Mathe und Deutsch. Und da stehen die Worte „Konfetti“ und „Flex und Flo“. Kinderscout Lotta weiß, was hinter diesen Worten steckt: Schulbücher und Arbeitshefte. Und sie erklärt gleich noch, wie so ein Arbeitplan funktioniert. Die Kinder der „Zwerge“ müssten jetzt eigentlich zum gemeinsamen Mittagessen. Doch heute ist die Einweihung der neuen Mensa. Deshalb gibt es Spinatpizza im Klassenraum. Spinat? Ja, ist doch Pizza.

Autorin: Jacqueline Engelke, vitamin be Kommunikation
Fotos: Friedrich-Wöhler-Schule Kassel

Datum: 30.01.2012
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