Runder Tisch als Markenzeichen

Individuelles Lernen und Flexibler Schulanfang in der Freiherr-vom-Stein-Grundschule in Rodgau-Dudenhofen

Ein Bericht von Barbara Zeizinger


Bericht fvss-rodgau Bild 1Auf dem Arbeitsblatt trägt Lukas seine Stärken und Schwächen ein. Schleifen binden und Geheimnisse bewahren kann er gut, Schwimmen mittel, während er die Uhr „nicht so gut“ lesen kann. „Kein Mensch kann alles“, steht über der Tabelle und somit gibt Lukas ruhig zu, dass es mit der Uhr noch ein bisschen hapert. Denn, so liest er weiter, „wir können stolz auf das sein, was uns gelingt.“

Diese kleine Szene aus dem Unterricht steht stellvertretend für das Gesamtkonzept der Freiherr-vom-Stein-Schule, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Individuelles Lernen als Grundprinzip zu verankern und somit jedem Kind die größtmöglichen Entwicklungschancen zu geben.

„Ein schlechter Schüler existiert nicht“, sagt Ursula Eller, die seit 2006 die Schule leitet. Seit Jahren hat sie sich zusammen mit ihrem Vorgänger Wendelin Grimm, inzwischen vom Kollegium per Konferenzbeschluss unterstützt, auf den Weg gemacht, Unterrichtsformen zu entwickeln, in denen das Kind im Fokus steht und individuell gefördert wird.

Ausgehend vom Erfahrungsbereich der Kinder stehen Tages- und Wochenplan, Lernen an Stationen, Werkstatt- und Projektunterricht im Mittelpunkt. Dies kommt den unterschiedlichen Lerntypen und ihren verschiedenen Zugangsmöglichkeiten zu den Inhalten entgegen.
Da Kinder gerne „lesen, weil sie etwas wissen wollen“ oder schreiben, „weil sie etwas mitteilen wollen“, werden ihre Ideen und Themen in den Unterricht mit aufgenommen. So führte beispielsweise die Frage eines Jungen ob es Waldgeister gebe, zur Suche in Lexika, zu Märchen und Geschichten.

Dass das freie Lernen festen Regeln und Strukturen nicht widerspricht, zeigt ein Blick auf Tages- und Wochenplan, die in einem Klassenzimmer gut sichtbar angebracht sind: Klassenrat, Vorlesezeit, Englisch und Kunst stehen unter anderem heute auf dem Programm und gleichzeitig ist festgehalten, wann etwas abgegeben werden muss oder wann eine Arbeit geschrieben wird.

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Klassenzimmer mit viel freiem Raum

Ein Gang durch die Schule zeigt, wie sich dieses Unterrichtskonzept schon in der Gestaltung der Klassenzimmer niederschlägt. Hier gibt es ausreichend Platz für die Kinder und für die im Unterricht benötigten zahlreichen Materialien. So steht in der Mitte immer ein großer runder Tisch, an den sich je nach Gelegenheit alle oder einzelne Kinder setzen können und an dem in der Pause gemeinsam gefrühstückt wird. Die Schülertische mit Heften und Mappen der Kinder sind nebeneinander an den Wänden angebracht. Manche Kinder haben bestimmte Aufgaben, die über ihren Plätzen aufgeschrieben sind: Wasserchef, Aufräumchef, Tafelchef. Ist genug Platz vorhanden, findet man vereinzelt sogar ein Sofa. Klassische Lehrertische vorne vor der Tafel sucht man vergeblich. Entweder gibt es gar keine oder sie stehen irgendwo am Rand.

In einem Raum ist gerade Religionsunterricht. Die Kinder sitzen mit ihrer Lehrerin auf Stühlen im Kreis. In der Mitte liegen Gegenstände, von denen sie sich einen aussuchen und etwas dazu sagen. In der nächsten Klasse befinden sich auf dem runden Tisch viele Zweige, Tannenzapfen und Moos. Die Kinder haben die Materialen gesammelt, weil sie ein Waldmuseum einrichten wollen. Biologie zum Anfassen.

Grundsätzlich sollen die Kinder sich gegenseitig unterstützen. Expertenteams können gefragt werden und Aufgaben werden kooperativ bewältigt. Übungs- und Hausaufgaben inklusive.

In den Klassen herrscht eine ruhige konzentrierte Lernatmosphäre. Der Raum, laut dem italienischen Pädagogen Loris Malaguzzi der dritte Pädagoge, scheint zu funktionieren. Dies fällt auch immer wieder Kollegen aus anderen Schulen auf, die in Dudenhofen hospitieren und bei ihren Rückmeldebögen die entspannte Unterrichtssituation betonen.

Kein Kind darf verloren gehen

Entsprechend des pädagogischen Leitgedankens der Schule spielt die Förderung der Kinder eine große Rolle. Dabei ist der Schule wichtig, dass dies im Rahmen des normalen Unterrichts in möglichst heterogenen Lerngruppen geschieht. Förderung darf nicht defizitorientiert sein und sollte ein Kind niemals beschämen. „Fördern ist immer auch Fordern“, sagt Wendelin Grimm.

Da in einer Woche insgesamt genügend Zeit für individuelles Lernen vorgesehen ist, kann sich jedes Kind eigene Ziele setzen, deren Grundanforderungen von der Lehrkraft für die anstehenden Lerninhalte festgesetzt werden. Die Lernziele für den Tag formulieren die Kinder und zum Wochenende nehmen sie ihren Arbeitsplan mit, um ihn den Eltern zu zeigen. Dadurch wird Transparenz hergestellt und die Eltern werden einbezogen. Denn sie sollen wissen, dass auch sie für einen Lernzuwachs mitverantwortlich sind.

Kinder mit Auffälligkeiten jeglicher Art werden möglichst bald diagnostiziert und durch qualifizierte Sozialpädagogen und Förderschullehrer/innen entsprechend unterstützt. Wird bei Kindern beispielsweise eine verzögerte Hörwahrnehmung festgestellt, haben sie die Möglichkeiten durch Lateraltraining ihre Aufnahmefähigkeit zu trainieren.

Insgesamt setzt die Schule in diesem Bereich auf eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit entsprechenden außerschulischen Institutionen. Eine wesentliche Aufgabe kommt in diesem Zusammenhang den Sozialpädagogen der Schule zu, welche die diagnostischen Verfahren durchführen. Und dann gibt es für alle Kinder im Pausenhof noch einen Sandkasten und einen Fußfühlpfad, die ebenfalls zur Wahrnehmung von Sinnesorganen beitragen.

Differenzierte Leistungsbemessung

Fast versteht es sich von selbst, dass auch die Leistungsbemessung den Regeln der Heterogenität und den unterschiedlichen Fähigkeiten der Kinder unterliegt. Beim kompetenzorientierten Unterrichten gibt es in allen Fächern zahlreiche Möglichkeiten der Notenfindung. In Deutsch muss es nicht immer ein Diktat sein. Rechtschreibung ist Handwerkszeug, meint Ursula Eller. Deshalb werden Diktate als Übungen geschrieben. Zur Entwicklung von Strategien für eine sichere Rechtschreibung tragen aber hauptsächlich eigene Texte, Vorträge und Referate bei, die auch für die Leistungsbemessung herangezogen werden. „Die Verordnungen lassen viele Freiheiten und eine veränderte Unterrichtssituation kann Freiräume schaffen.“ Der ehemalige Schulleiter Wendelin Grimm ergänzt: „Bei Orientierungsarbeiten liegt die Schule immer im oberen Bereich.“ In einer Studie hat er herausgefunden, dass die Freiherr-vom-Stein-Schüler/innen es mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil in Gymnasien und Realschulen schaffen und dort die Schullaufbahn bis zu Abschlüssen durchhalten.

Flexibler Schulanfang für alle Sechsjährigen

Das Konzept der Schule ist von dem Gedanken getragen, auf die Heterogenität der Schüler differenziert zu antworten. So war es nur folgerichtig, dass es nach vierjähriger Vorbereitungszeit einen Konferenzbeschluss gab, an den Kreis Offenbach als Schulträger und an das Staatliche Schulamt Offenbach den Antrag zu stellen, ab dem Schuljahr 2011/2012 einen flexiblen Schulanfang einzurichten. Da der Antrag genehmigt wurde, heißt das, dass alle Kinder, die das 6. Lebensjahr vollendet haben, ohne Vorbedingungen eingeschult werden. Kein Kind wird als schulunfähig erklärt und deshalb zurückgestellt, es gibt keine Vorklassen mehr und die Kann-Kinder-Regelung wird beibehalten.

Erfahrungsgemäß weisen Kinder gerade beim Schulanfang große Entwicklungsunterschiede auf. Sie können eher Fünfjährigen ähneln oder sich schon wie Siebenjährige verhalten. Da die beiden ersten Schuljahre als Einheit gesehen werden, bietet der flexible Schulanfang in diesem Zusammenhang gute Möglichkeiten, die Kinder je nach ihren Fähigkeiten zu betreuen. Die Jahrgänge werden in gemischten Gruppen unterrichtet, in denen die Kinder in der Regel zwei Jahre bleiben. Allerdings kann ein Kind bei entsprechenden Leistungen auch schon nach dem ersten Jahr in die dritte Klasse versetzt werden oder umgekehrt ein Jahr länger in den Eingangsklassen bleiben. Eine solche Neuerung kann nur bei großem Engagement der Kolleg/innen gelingen. Weil Lehrbücher für gleichschrittigen Unterricht sorgen, müssen ständig passende Materialien gesichtet und teilweise selbst hergestellt werden. Unterschiedliche Fortschritte der Kinder müssen wahrgenommen werden, damit darauf entsprechend reagiert werden kann. Dies geht natürlich nicht ohne gegenseitige Unterstützung. Daher trifft sich das „Team flexibler Schulanfang“ regelmäßig, um sich auszutauschen und gegenseitig zu beraten.

Ganztagsschule als Herausforderung

„Ganztagsschule geht nicht mit den üblichen Mitteln“. Davon ist die Schulleiterin überzeugt und somit entspricht das Konzept der Freiherr-vom-Stein-Schule ihrem Status als Offene Ganztagsschule (Profil 2). Die veränderte Lernkultur und Unterrichtsgestaltung schlägt sich auch in der äußeren Rhythmisierung des Schultages nieder.

Grundsätzlich gibt es für alle Jahrgangstufen drei Unterrichtsblöcke, in denen Kinder und Lehrer/innen ohne Zeitdruck und ohne Klingel arbeiten können. Während der erste Block für alle inklusive eines zehnminütigen Frühstücks von 8:00 -10:00 Uhr dauert, sind die beiden folgenden Einheiten je nach Alter unterschiedlich lang. Innerhalb dieser Blöcke wird alles für den Schulvormittag Wichtige erledigt, einschließlich eines Mittagessens oder eines zweiten Frühstücks und einer Übungszeit im Beisein von Lehrkräften. Da die Unterrichtsformen der Freiherr-vom-Stein-Schule sehr abwechslungsreich und mit großer Selbstbeteiligung der Schüler/innen organisiert sind, findet nicht nur eine zeitlich gegliederte, sondern auch eine inhaltliche Rhythmisierung des Schultages statt. Ab 13:30 beginnt das sowohl von Lehrer/innen als auch von weiterem pädagogischen Personal gestaltete Nachmittagsprogramm.

Erfahrungen weitergeben

Die Freiherr-vom-Stein-Schule öffnet nicht nur häufig ihre Türen, um Kolleg/innen anderer Grundschulen ihr Konzept vorzustellen und sich mit ihnen darüber auszutauschen, sondern Ursula Eller und Wendelin Grimm bieten inzwischen auch Fortbildungen für Schulen an, die sich in ihrem Sinn auf den Weg machen wollen. Da sie wissen, wie schwierig und arbeitsintensiv die Anfänge eines Paradigmenwechsels innerhalb einer Schule sind, wollten sie ihre Erfahrungen weitergeben. Daher haben sie für den Beltz Verlag zwei Praxisbücher (eins davon mit Luisa Greco, einer Kollegin der Schule) über Möglichkeiten von Individuellem Lernen geschrieben, die den Schulen dieses neue Unterrichten mit Hilfe von Materialien und Kopiervorlagen erleichtern sollen.
„Träumen und Bummeln ist auch mal erlaubt“, hält ein Kollege aus einer anderen Schule auf seinem Beobachtungsbogen fest. Vielleicht, weil jedes Kind weiß: „Ich habe ausreichend Zeit.“

Homepage: https://www.fvssrodgau.de/

Autorin: Barbara Zeizinger
Fotos: Freiherr-vom-Stein-Grundschule, Rodgau-Dudenhofen
Datum: 27. August 2012
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