Viel Neues in alten Gemäuern
Ein Bericht von Barbara Zeizinger
Dieser Artikel erschien zuerst im Forum GanzGut 11 "Lernen in der digitalen Welt" der Serviceagentur "Ganztätig lernen" Brandenburg.
Im Neuen Gymnasium in Rüsselsheim blicken im Grundkurs Biologie alle Schülerinnen und Schüler konzentriert auf ihre Tablets. Sie recherchieren im Internet nach „Diploid“, „Haploid“ und anderen Begriffen, die ihr Lehrer Benjamin Seelisch auf die digitale Tafel geschrieben hat. Ist die Suche abgeschlossen, werden die Ergebnisse zusammengetragen. Gemeinsam wird dann auf dem Smartboard festgehalten, wodurch das Geschlecht eines Menschen bestimmt wird. Dieses Arbeiten mit digitalen Medien ist für die Schüler und Schülerinnen nichts Außergewöhnliches, denn ihre Schule hat seit den Herbstferien des Schuljahres 2013/14 die Tablet-Oberstufe eingerichtet. Damit holt sie die Jugendlichen in ihrer Lebensrealität ab und hält sie gleichzeitig dazu an, das Medium als Arbeitsgerät zu nutzen.
Man muß sich immer fragen, wann der Einsatz von Tablets sinnvoll ist und wann es besser ist, analog zu arbeiten.
In anderen Formen des digitalen Lernens ist die Schule ebenfalls gut aufgestellt. Sie arbeitet auf allen Ebenen des Schulalltags mit der umfangreichen Lernplattform „itslearning“, auf der die gesamte Schulgemeinde, also Schüler, Schülerinnen, Lehrkräfte und Eltern, in unterschiedlichen Bereichen miteinander verbunden ist. Ihre Erfahrungen teilt das Gymnasium mit fünf anderen Schulen aus der gesamten Bundesrepublik. „Lernen im digitalen Alltag“ heißt das Netzwerk aus dem Programm „Ideen für mehr! Ganztägig lernen.“ der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, an der diese Schulen teilnehmen.
„Man kann nicht sagen, jetzt wird alles besser“
Der Biologie-Leistungskurs beschäftigt sich auch mit Genetik. Als nächstes Thema steht Stammzellenforschung auf dem Lehrplan und Lehrerin Barbara Pfadler hat zur Vorbereitung ein Schaubild zur Ontogenese auf die digitale Tafel geworfen, das die Schülerinnen und Schüler in eigenen Worten wiedergeben sollen. In diesem Kurs arbeiten nur zwei Jungen mit den Tablets, die anderen Jugendlichen schreiben in ihre Hefte. Für Barbara Pfadler ist das in Ordnung. Denn im Hinblick auf das ohne Tablet zu schreibende Abitur findet sie es wichtig, dass Schülerinnen und Schüler ab und zu auch ganz traditionell arbeiten.
Dass das Tablet kein Selbstzweck ist, betonen alle Lehrkräfte. Projektleiter und Biologiefachleiter Benjamin Seelisch sagt, man müsse sich immer fragen, wann der Einsatz von Tablets sinnvoll und wann es besser sei, analog zu arbeiten. Er war es auch, der bereits im Schuljahr 2012/13 mit einer siebten Klasse das Pilotprojekt gestartet hatte. Gezielt einsetzen will René Reinhold, Mitglied des Schulleitungsteams und Koordinator der eingeführten Lernplattform, die Tablets als Werkzeuge, mit denen man in Mathematik Funktionen darstellen und Veränderungen in Gleichungen direkt sichtbar machen kann.
Sport im Slow-Motion-Modus
Aber nicht nur in den Naturwissenschaften lassen sich die Tablets nutzen. Daniel Schupmann, Lehrer für Englisch und Sport, demonstriert eindrucksvoll, welche Möglichkeiten sie für seine Fächer bieten. Die Schüler und Schülerinnen filmen beispielweise bei einem Basketballspiel gegenseitig ihre Bewegungen. Diese können dann bei der Nachbesprechung in einzelne Phasen zergliedert, in Standbildern festgehalten und so von ihnen selbst - ohne die Kontrollinstanz des Lehrers - beurteilt werden.
In Englisch (und anderen Sprachen) werden Szenen einer Lektüre vertont und die Lektüre zum Hörbuch umgestaltet. Man kann Comics oder andere Zeichnungen direkt auf die digitale Tafel projizieren oder ein Phantombild des Protagonisten der Klassenlektüre, die übrigens in Printform gelesen wird, anfertigen. Für klassische Ausspracheübungen bieten die Tablets eine Fülle von Möglichkeiten.
Chancengleichheit, weil alle ein Tablet haben
Nicht der Schulträger hat die Android-Tablets angeschafft, sondern die Schülerinnen und Schüler selbst. Mit dem IT-Ausstatter Rednet hat die Schule mit knapp 300 Euro einen guten Preis für den ersten Jahrgang ausgehandelt. Da es mit Hilfe des Fördervereins und von Sponsoren möglich wurde, finanziell schwach gestellte Familien bei der Anschaffung zu unterstützen, kann die gesamte Oberstufe mit dem Tablet arbeiten. So erwerben auch Schülerinnen und Schüler, die sich privat kein Tablet leisten könnten, die immer wichtiger werdende Medienkompetenz.
Das Projekt wird wissenschaftlich von der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz begleitet, die evaluiert, wie erfolgreich der Tablet-Einsatz im regulären Unterricht ist.
Interaktiv in allen Räumen
In die Klassenzimmer der jüngeren Schüler und Schülerinnen hat das Medienzeitalter auch Einzug gehalten. Eine traditionelle Schiefertafel und Kreidestücke sucht man vergeblich. Schon äußerlich hat die Präsenz der digitalen Hilfsmittel ihre Spuren hinterlassen. Der Lehrertisch ist an die Seite gerückt, um den Schülerinnen und Schülern nicht den Blick auf die digitale Tafel zu verstellen. René Reinhold führt in einer 8. Klasse die Quadratwurzel ein. Hier ist der Unterricht eine Mischung aus analog und digital: Es gibt Arbeitsblätter und die Schülerinnen und Schüler schreiben ihre Ergebnisse mit einem Stift auf ein Whiteboard. Zusätzlich kommt auch hier das Tablet ins Spiel: René Reinhold verbindet sein Tablet über ein AllShare Cast Dongle mit der digitalen Tafel und zeigt so zum einen die vorbereiteten Arbeitsblätter, zum anderen gerade erst errechnete Ergebnisse der Schüler auf dem Smartboard. Da das viel schneller als an einer traditionellen Tafel geht, kann der Lehrer in einer Doppelstunde noch zahleiche Rechenbeispiele anbieten.
Schluss mit der Zettelwirtschaft
Besonders effektiv ist der Einsatz von Tablets, Computern und digitalen Tafeln an dem Neuen Gymnasium durch die fast zeitgleich mit der Tablet-Oberstufe eingeführte Lernplattform „itslearning“. Durch sie werden nicht nur die gesamte Verwaltung der Schule und die Nachrichtenflut zwischen allen Beteiligten erleichtert, sondern sie eröffnet sowohl Schulleitung und Lehrkräften als auch Schülerinnen und Schülern viele neue Möglichkeiten.
Je nach Zielgruppe gibt es öffentliche und geschützte Bereiche: Die Schulleitung kann Mitteilungen an das Kollegium verschicken und veröffentlichen und Fachschaften können innerhalb ihres Bereiches miteinander kommunizieren. Ist ein Lehrer krank, kann er nachsehen, wer ihn vertritt, und diesem Kollegen entsprechende Arbeitsaufträge für die Schüler und Schülerinnen zukommen lassen.
Lehrerinnen und Lehrer können sich für jeden Kurs und jede Klasse einen (geschützten) Bereich anlegen und den Schülern beispielsweise vor Klausuren zusätzliche Materialen zukommen lassen. Sie können Probetests aufspielen oder die Schülerinnen und Schüler entwerfen selbst eigene Tests, deren Ergebnisse dann wieder gemeinsam besprochen werden.
Ferner lässt sich die Lernplattform für Notizen nutzen, die sich die Lehrkraft im Laufe eines Schuljahres macht. Daniel Schupmann berichtet, seit Einführung der Lernplattform trage er viel häufiger seinen Eindruck zur Mitarbeit eines Schülers ein oder notiere, wann jemand zu spät komme, gute oder keine Hausaufgaben habe usw. Er ist überzeugt, dass dadurch die Endnote repräsentativer und auch transparenter werde.
Zusammenspiel von Tablets und Lernplattform
Grundsätzlich ist zu sagen, dass sich das Arbeiten mit den verschiedenen Medien für den Unterricht sehr gut ergänzt. Individuelles Lernen und selbständiges Lernen wird gefördert, viele Unterrichtsinhalte kann man umfassend visualisieren und zahlreiche Unterrichtsprozesse werden erleichtert. Gleichzeitig müssen die Schülerinnen und Schüler auch die Grenzen von Tablets und Computern erkennen und wissen, an welchen Stellen sie besser mit Stift und Papier oder Büchern und Zeitschriften arbeiten. Sie lernen, den Wert von Quellen im Internet einzuschätzen und zwischen sozialen Netzwerken und digitalen Werkzeugen zu unterscheiden. Daran arbeitet das Kollegium des Neuen Gymnasiums. Dafür mag es ein Vorteil sein, dass es die Schule erst seit dem Jahr 2008 gibt und diese daher ein recht junges Kollegium hat. Die Schule befindet sich umgeben von Industriebauten in einem ehemaligen Gebäude der Firma Opel. Vielleicht hat der Pioniergeist dieser Umgebung dazu beigetragen, im Unterricht neue Wege zu gehen.
Autorin: Barbara Zeizinger, Hagenstraße 42, 64297 Darmstadt, 06151-9516804, Barbara.Zeizinger@t-online.de
Fotos: Barbara Zeizinger
Datum: Dezember 2014
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